Medical Tribune
3. Juli 2024Konsequentes therapeutisches Management entscheidet

Epilepsie in der Schwangerschaft: «Therapie fortführen und Folsäure nicht vergessen»

Anlässlich der Jahrestagung der Schweizerischen Gesellschaft für Neurologie präsentierte Professor Dr. Barbara Tettenborn, Chefärztin Zentrum für neurologische Präventivmedizin und Sportneurologie, Zürich, und Präsidentin der Schweizerischen Epilepsie-Liga, aktuelle Registerdaten, Leitlinien-Empfehlungen und Swissmedic-Auflagen im Zusammenhang mit Schwangerschaft und Epilepsie. Sie betonte, dass Frauen mit Epilepsie schwanger werden und gesunde Kinder zur Welt bringen können, wenn ein individuell optimiertes, konsequentes ärztliches Management gewährleistet ist.

Bei einer Schwangerschaft ist eine Fortführung der Epilepsie-Therapie entscheidend.
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Zunächst ging die Expertin auf aktuelle Daten zur Teratogenität von Anfallssuppressiva ein. Untersucht wurde dies am ursprünglich europäischen (EURAP, European Registry of Antiepileptic Drugs in Pregnancy) und inzwischen internationalen Schwangerschaftsregister (mit 42 teilnehmenden Ländern).

Schwangerschaft von knapp 18.000 Epilepsie-Patientinnen untersucht

Im EURAP Interim Report 11/2023 konnte der Outcome von 17.544 prospektiv dokumentierten Schwangerschaften analysiert werden.

Während 79,3 Prozent der Frauen eine Monotherapie erhalten hatten, bestand bei 16,7 bwz. 2,9 Prozent eine duale oder Dreifach-Therapie. Bei 1,1 Prozent blieb die Epilepsie während des ersten Trimesters unbehandelt, so Prof. Tettenborn. Die Analyse erbrachte folgende Resulate Resultate:

  • 95,4 Prozent aller Schwangerschaften bei Frauen mit Epilepsie verliefen normal.
  • Unter einer anfallssuppresssiven Monotherapie (n = 13 912) war es in 4,2 Prozent der Fälle zu Fehlbildungen gekommen.
  • Diese Rate erhöhte sich auf 6,1 Prozent bei Einsatz von anfallssuppresssiven Kombinationstherapien.

Die 13.912 Frauen, die mit nur einem Anfallssuppressivum behandelt wurden, hatten am häufigsten Lamotrigin (n = 4.998) erhalten, gefolgt von Carbamazepin (n = 2.970), Valproat (n = 2.067) und Levetiracetam (n = 1911).

Während des ersten Trimesters bestanden die häufigsten Kombinationstherapien aus

  • Lamotrigin + Levetiracetam (n = 521),
  • Lamotrigin + Valproat (n = 302) und
  • Carbamazepin + Levetiracetam (n = 190).

Fehlbildungsrisiko steigt mit der Dosis

Prof. Tettenborn betonte, dass sich nicht nur das Anfallssuppressivum per se, sondern auch dessen Dosierung auf das Risko einer Fehlbildung auswirkt. Das Fehlbildungsrisiko steigt mit der Dosis. So fand man in der EURAP-Kohorte beispielsweise unter Lamotrigin < 300 mg und unter Carbamazepin < 400 mg pro Tag die geringste Fehlbildungsraten (2 %, bzw. 3,4 %).

In sämtlichen Dosierungen von Valproat und auch Phenobarbital waren die Fehlbildungsraten signifikant höher. Und zwar um bis zu 24,2 Prozent unter mehr als 1500 mg Valproat. Ausserdem fiel auf, dass es unter Valproat während der Schwangerschaft bei 30 bis 40 Prozent der Kinder zu neurologischen Entwicklungsstörungen und zu einem drei- bis fünffach erhöhten Risiko von Autismus-Spektrum-Störungen kam.

Daher müssen alle Mädchen und Frauen, deren Epilepsie mit Valproat behandelt wird, eine jährliche Risikoaufklärung erhalten. Diese müssen sowohl Arzt als auch Patientin unterschreiben.

Familienplanung bei Männern unter Valproat

Eine bislang noch nicht veröffentlichte und in der Methodik deutliche Mängel aufweisende Studie bzw. Analyse von Daten aus drei skandinavischen Ländern dokumentierte ein leicht erhöhtes Risiko für neurologische Entwicklungsstörungen bei Kindern, deren Väter in den drei Monaten vor der Konzeption mit Valproat behandelt worden waren – verglichen mit Männern unter einer Therapie mit Lamotrigin oder Levetiracetam.

Die neurologische Entwicklung war unter Valproat bei fünf Prozent beeinträchtigt gegenüber rund drei Prozent unter den beiden anderen Anfallssuppressiva. Bei Frauen unter Valproat liegt das Risiko mit 30 bis 40 Prozent in einer ganz anderen Grössenordnung. Beim Risiko für kongenitale Fehlbildungen bestand kein Unterschied, erklärte die Referentin.

Das Pharmacovigilance Risk Assessment Committee (PRAC) der EMA verwies auf Schwachstellen bei den Studiendaten und deren Auswertung. Trotzdem sah sich Swissmedic im März 2024 veranlasst, weitreichende Massnahmen zu fordern, wenn Männer mit Epilepsie Valproat verordnet bekommen. Dazu gehört auch eine aktive Kontaktaufnahme.

Die Schweizerische Epilepsie-Liga, mit Prof. Tettenborn als Präsidentin, hingegen warnt vor vorschnellen Schritten: Männer, die unter Valproat gut behandelt und anfallsfrei sind, sollten Valproat als Therapie beibehalten. Sie unterstützt die Forderung von Swissmedic, alle Männer unter Valproat aktiv zu kontaktieren, nicht. Schliesslich ist Valproat bei Männern und Frauen mit generalisierter und nicht klassifizierbarer Epilepsie das am besten wirksame Anfallssuppressivum und damit Mittel der ersten Wahl – eine sichere Kontrazeption vorausgesetzt. Das haben die Resultate der SANAD-II-Studie bestätigt.

Epilepsie-Liga empfiehlt individuelle Folat-Dosierungen in der Schwangerschaft

Von einer perikonzeptionellen Folsäure-Gabe profitieren Kinder von Frauen mit Epilepsie, indem sie im Alter von sechs Jahren einen höheren IQ aufweisen; das zeigten die Resultate der NEAD-Studie. Um neurologische Entwicklungsstörungen zu verhindern, wird die Gabe von mindestens 400 µg Folsäure pro Tag während der gesamten Schwangerschaft empfohlen.

Vor einer Folat-Hochdosistherapie (durchschnittliche Tagesdosis von 4,3 mg) während der Schwangerschaft warnte eine retrospektive Beobachtungsstudie, deren Qualität allerdings kritisch hinterfragt werden muss, so Prof. Tettenborn. Ob bei den Kindern tatsächlich ein erhöhtes Krebsrisiko besteht, wird bisher kontrovers diskutiert.

Die Schweizerische Epilepsie-Liga empfiehlt Folat-Dosierungen in der Schwangerschaft – je nach anfallssuppressiver Therapie – von individuell bis zu 3 mg pro Tag und eine Messung des Folatspiegels in den mütterlichen Erythrozyten, um den Folatbedarf im Einzelfall genau zu ermitteln.