Medical Tribune
8. Mai 2023Bis zu 60 Prozent der Patienten haben eine Abhängigkeit

Psychose und Sucht treten oft im Duo auf

Viele Patienten mit psychotischen Störungen entwickeln im Laufe ihres Lebens eine Abhängigkeit. Welche Mechanismen dahinterstecken, und wie der aktuelle State-of-the-Art bei der Therapie aussieht, erklärt PD Dr. Matthias Kirschner, Hôpitaux Universitaires Genève, im Zuge eines Vortrages am FomF.

Patienten mit Psychose weisen hohe Komorbiditäten mit Suchtkomponente auf.
Prostock-Studio/gettyimages

«Im klinischen Alltag gehen wir davon aus, dass rund 40 bis 60 Prozent der Patienten mit einer schizophrenen Psychose oder einer bipolaren Störung irgendwann im Leben ebenfalls an einer Abhängigkeitserkrankung leiden», erklärt PD Dr. Matthias Kirschner vom Département de psychiatrie der Hôpitaux Universitaires Genève (1). Für die Nikotinabhängigkeit ist diese Zahl sogar noch höher. Sie liegt bei Menschen mit Psychosen bei bis zu 70 und 90 Prozent.

Cannabis-Konsum ist ein starker Prädiktor für Psychosen

Besonders intensiv beforscht man dabei den Zusammenhang von Psychosen und dem Konsum von Cannabis. «Das liegt daran, dass sich der Zusammenhang von Einnahme, Art und Stärke des konsumierten Cannabis und dem Auftreten von Psychosen recht einfach untersuchen lässt», erklärt PD Dr. Kirschner. Eine multizentrische Studie (2) konnte etwa bei 900 Personen mit einer Erstdiagnose einer Psychose uns 1.200 Gesunden zeigen, dass Teilnehmer, die täglich Cannabis konsumiert hatten, ein höheres Risiko für eine spätere Psychose hatten als Personen die nie oder selten konsumiert hatten. Personen, die Cannabis mit einem höheren Gehalt an Tetrahydrocannabinol (THC) anwendeten, hatten zudem ein noch deutlich höheres Risiko.

«Cannabis hat sogar einen Einfluss darauf, wann Psychosen beginnen», so der Experte. In einer epidemiologischen Untersuchung waren Personen, die nie Cannabis konsumiert hatten, bei Erstdiagnose ihrer Psychose im Durchschnitt 31,4 Jahre alt. Bei jenen, die täglich hochpotentes THC konsumiert hatten, äusserte sich die Psychose hingegen bereits im Durchschnitt mit 25,2 Jahren (3). Das sagt zwar – wie bei allen epidemiologischen Studien – nichts über eine Kausalität aus, erinnert der Experte. Ein Zusammenhang sei jedoch definitiv gegeben.

Matthias Kirschner
zVg

«Im klinischen Alltag sehen wir recht häufig, dass Patienten mit Psychosen versuchen, sich mit Suchtmitteln selbst zu behandeln», sagt PD Dr. Matthias Kirschner, Hôpitaux Universitaires Genève.

Schlechtere Medikamentenadhärenz, häufigere Rezidive

Doch nicht nur auf den Beginn der Störungen hat der Substanzkonsum einen Einfluss. Auch den Krankheitsverlauf beeinflusst eine substanzgebundene Abhängigkeit wesentlich. So führt anhaltender Konsum bei Patienten mit Psychosen zu niedrigerer Medikamentenadhärenz und häufigeren Rezidiven. Auch das Funktionsniveau sinkt, was im Endeffekt mit sozialen Problemen wie Arbeitslosigkeit einhergeht.

Dieser Effekt ist aber auch umkehrbar, weiss PD Dr. Kirschner. Schafften es Psychose-Patienten, ihren Substanzkonsum einzustellen, konnten sie damit ihr Funktionsniveau und ihre Arbeitsfähigkeit wesentlich steigern (4). Im Falle einer erfolgreichen Entwöhnung von Cannabis sank auch ihre Rezidivwahrscheinlichkeit (5).

Warum treten Psychose und Sucht so häufig gemeinsam auf?

Dafür, dass Psychose und Sucht so häufig gemeinsam auftreten, gibt es laut PD Dr. Kirschner heute drei plausible Erklärungsmodelle:

  1. die Substanzinduzierbarkeit von Psychosen
  2. die Selbstmedikationshypothese, und
  3. gemeinsame biologische Mechanismen von Psychose und Sucht.

Das Modell der substanzinduzierten Psychosen nimmt an, dass ein Substanzkonsum eine Psychose bei entsprechender Neigung auslöst. «Das Modell ist mittlerweile durch Daten belegt und auch relevant für die Diagnostik», erklärt PD Dr. Kirschner. Studien aus den letzten 30 Jahren zeigen etwa, dass die intravenöse Gabe von THC akute Psychosen bei Gesunden auslösen kann (6). Amphetamin-Injektionen bei Menschen mit Psychosen konnten die Dopaminfreisetzung und die Zunahme von Positivsymptomen induzieren (7).

In epidemiologischen Untersuchungen gibt es zudem bei rund 25 Prozent den Patienten, die ihre erste Psychose erleben, einen zeitlichen Zusammenhang zwischen dem Auftreten der Symptome und einem Substanzkonsum (8). «Leichtfertig abtun sollte man das nicht», so der Experte. «Denn rund 25 Prozent der Patienten mit einer substanzinduzierten Psychose entwickeln im Verlauf ihres Lebens eine Schizophrenie.» Dieser Vorgang nennt sich Transition.

Am höchsten ist die Rate der Transitionen nach dem Konsum von Cannabis (34%), gefolgt von Halluzinogenen (26%), und Amphetaminen (22%) (8). Aber auch bei einer Psychose aufgrund von erhöhtem Alkoholkonsum liegt die Transitionsrate bei rund zehn Prozent.

Dient der Substanzkonsum einer Selbstmedikation?

Das zweite Modell, die Selbstmedikationshypothese, beschreibt, dass Patienten versuchen psychotische Symptome durch Substanzkonsum zu lindern.» Zum gegenwärtigen Zeitpunkt kann die Selbstmedikationshypothese wissenschaftlich weder eindeutig bestätigt noch widerlegt werden,» sagt PD. Dr. Kirschner, «klinisch gibt es aber bei vielen Patienten Hinweise auf ein solches Verhalten.»

Einerseits gemeint sind damit etwa Menschen mit psychotischer Symptomatik, die vermehrt zu Substanzen greifen, um die Symptomatik selbst zu behandeln. So haben manche Patienten aufgrund von paranoiden Ideen oder Halluzinationen extreme Ängste und Anspannung. Diese versuchen sie durch dämpfenden und beruhigende Substanzen wie Alkohol, Cannabis oder Benzodiazepinen zu verringern. Ebenso gibt es Patienten, die unter starken Negativsymptomen mit Antriebs- und Freudlosigkeit leiden und versuchen diese durch anregende Substanzen wie Kokain und Amphetaminen zu verbessern.

"Eine weitere Gruppe betrifft möglicherweise jene Patienten, die wegen ihrer Psychosen behandelt werden und mit der Einnahme von stimulierenden oder dämpfenden Substanzen den Nebenwirkungen ihrer Medikation intuitiv entgegenwirken wollen,» erinnert PD Dr. Kirschner. So lösen klassische Neuroleptika etwa Unruhe aus, die Patienten dann oft mit dämpfenden Substanzen in Eigenregie «therapieren». Antipsychotika der ersten und zweiten Generation können bei Überdosierung ausserdem Negativsymptome wie Apathie und Anhedonie auslösen. Diese lassen Patienten dann möglicherweise zu Stimulanzien greifen.

Eine gemeinsame Ursache für psychische und Suchterkrankungen

Das dritte Erklärungsmodell für den Zusammenhang Sucht und Psychose geht davon aus, dass Psychosen und Substanzkonsum gemeinsame Mechanismen zugrunde liegen – etwa durch Genetik, Neurobiologie und Umwelt. «Schon seit vielen Jahren ist bekannt, dass es beim genetischen Risiko für schizophrene Psychosen, der bipolaren Störung und Substanzabusus Überlappungen gibt. Ausserdem gibt es neurobiologische Gemeinsamkeiten, und auch Umweltfaktoren wie Stress, Armut und Missbrauchserfahrungen sind Risikofaktoren, die bei psychotischen Störungen und Abhängigkeitserkrankungen ganz besonders im Vordergrund stehen», weiss PD Dr. Kirschner.

Ein Beispiel ist die Dysfunktion im meso-kortiko-limbischen Dopaminsystem, die sowohl für Suchterkrankungen, als auch für die Positiv- und Negativsymptomatik einer Psychose gezeigt werden konnte.

Beim Antipsychotikum auf das Nebenwirkungsprofil achten

«Die Behandlung von Menschen mit der Dualdiagnose Psychose und Substanzabhängigkeit folgt im Allgemeinen den Grundsätzen der Behandlung von Patienten ohne Suchterkrankung», fasst der Experte zusammen. Bei den Antipsychotika zeigte kürzlich eine Metaanalyse (9), dass es zwischen den aktuell verfügbaren Präparaten nur geringe Wirksamkeitsunterschiede gibt. «Die eindeutige Empfehlung lautet daher, beim Beginn einer antipsychotischen Medikation eher auf das individuelle Nebenwirkungsprofil zu achten. Erfolgt dann ein Wechsel auf ein anderes Antipsychotikum, kann dieses nach Rezeptorprofil und Nebenwirkungsprofil gewählt werden.»

Was die Vermeidung von Re-Hospitalisierungen aufgrund der Psychose oder der Substanzstörung anbelangt, zeigte im Vorjahr eine Metaanalyse, dass unter den Patienten mit Psychosen und komorbider Suchterkrankung vor allem jene Personen im Vorteil waren, die Clozapin und Olanzapin, oder auch Depotmedikamente oder eine Polytherapie erhielten (10).

Die meisten Entwöhnungshilfen sind für Patienten mit Psychosen sicher

Für Menschen mit einer Psychose, die ihren Tabak- oder Alkoholkonsum einstellen wollen, haben kontrollierte Studien die Sicherheit der meisten konventionellen Entwöhnungsbehandlungen gezeigt, so PD Dr. Kirschner. Er weist jedoch darauf hin, dass Pharmakotherapien mit potenziellem Psychose-Risiko (Vareniclin, Bupropion) nur bei remittierten Patienten unter ausreichender antipsychotischer Therapie verabreicht werden sollten.

Bei einer Psychose und Opiatsubstitution stellt sich zudem das Problem, dass sowohl Methadon als auch viele Antipsychotika das Risiko für eine QT-Zeit Verlängerung erhöhen (11). Um dem entgegenzuwirken, sollte auf ein Antipsychotikum mit der geringsten QT-Zeit-Verlängerung gewechselt oder auf ein Morphinpräparat umgestellt werden, bei denen das Problem nicht besteht.