Medical Tribune
27. Aug. 2022«Zero» Zucker, gestörte Glukosetoleranz

Sind Süssstoffe alles andere als harmlos?

Bisher wiesen nur Tierstudien darauf hin, eine aktuelle Studie legt nun nahe, dass es auch beim Menschen einen Zusammenhang geben könnte: Künstliche Süssstoffe wie Aspartam, Sucralose oder Saccharin beeinträchtigen möglicherweise das Mikrobiom des Verdauungstraktes und in weiterer Folge den Zuckerstoffwechsel.

Auch wenn "zero"-Getränke kalorienfrei sind, könnten sie unangenehme Effekte auf den Blutzucker haben.
Marvin Samuel Tolentino Pineda/gettyimages

Süssstoffe kommen in vielen prozessierten Lebensmitteln vor – allen voran in Softdrinks, die oft mit der Zusatzbezeichnung «zero» versehen sind. Zuckerersatzprodukte wie Aspartam, Sucralose, Saccharin oder Stevia sollen die Süsse des Zuckers imitieren, und werden zwar im Mund als süss wahrgenommen, haben aber keine Kalorien und sollen den Blutzucker nicht in die Höhe treiben – so jedenfalls die Theorie.

Eine am 19. August 2022 im Top-Journal Cell veröffentlichte Studie zeigt nun, dass kalorienfreie Süssstoffe nicht wie bislang gedacht inert für den Stoffwechsel sind. Schlimmstenfalls könnten sie langfristig den Zuckerstoffwechsel aus dem Lot bringen (1).

Verändertes Mikrobiom bei Mäusen und Menschen

Bereits vor einigen Jahren zeigten israelische Wissenschaftler in Mäusen, dass Süssstoffe das Darm-Mikrobiom verändern, und die Glukosetoleranz beeinträchtigen können. Das gleiche Wissenschaftler-Team hat nun Ähnliches in einer randomisierten kontrollierten Studie bei gesunden menschlichen Probanden gezeigt.

Das Studienteam wählte für ihre Untersuchung 120 Erwachsene aus, die Süssstoffe vor der Studie strikt gemieden hatten. Im Zuge der Studie ernährte sich eine Untergruppe der Probanden weiterhin Süssstoff-frei. Die Teilnehmer in vier weiteren Gruppen nahmen zwei Wochen lang täglich einen Zuckerersatz (Saccharin, Sucralose, Aspartam oder Stevia) zu sich. Auch etwas Glukose war in den eingenommenen Sachets enthalten; das spiegelt wider, wie die meisten Süssstoffe in der Praxis angewendet werden. Die Dosis lag dabei mindestens ein Viertel unter der empfohlenen Tagesdosis. Eine sechste Probandengruppe konsumierte zusätzlich zur normalen Ernährung fünf Gramm Glukose täglich.

Die Hypothese der Autoren war, dass Süssstoffe die Zusammensetzung und die Funktionsweise des Mikrobioms beeinflussen und die Glukosetoleranz beeinträchtigen.

Die Antwort liegt im Darm

Und wirklich: Innerhalb der zwei Experimentwochen veränderte sich bei einigen Süssstoff-Probandengruppen die Zusammensetzung und Funktionalität (z.B. Biosynthese von Fettsäuren) der Bakteriengemeinschaften im Darm und in der Mundhöhle deutlich. Im Plasma von Probanden, die eine Woche lang Süssstoffe eingenommen hatten, waren ausserdem von Bakterien produzierte Metabolite zu finden, die Einfluss auf den Zuckerstoffwechsel haben könnten.

Zusätzlich unterzogen sich die Probanden mehreren oralen Glukosetoleranztests. Bei Teilnehmern, die Sucralose und Saccharin konsumiert hatten, verschlechterte sich die Glukosetoleranz in Woche 1 und 2 der Süssstoffgaben signifikant im Vergleich zur Kontrollgruppe, die nur Glukose verzehrt hatte. Nach Absetzen der künstlichen Süsse gingen diese Werte aber wieder zurück in den Normalbereich.

Wurde zudem Stuhl von Probanden, die vorher die Süssstoffe Saccharin und Sucralose verzehrt hatten, in den Darm von Mäusen transplantiert, zeigte sich bei den Mäusen eine deutliche Verschlechterung der Glukosetoleranz.

Auswirkungen auf das Mikrobiom überzeugend

«Die Studie stellt zum ersten Mal eine Kausalität zwischen einer Bandbreite von Süssstoffen, dem Mikrobiom, und dem Zuckerhaushalt im Menschen her», sagt Professor Dr. David Fäh vom Departement Gesundheit, Ernährung und Diätetik der Berner Fachhochschule. Vor allem die Veränderung des Mikrobioms ist für ihn überzeugend. «Auch wenn kalorienfreie Süssstoffe für Menschen metabolisch inert sind, heisst das nicht, dass Darmbakterien sie nicht verstoffwechseln können.» Das habe die Studie jetzt gezeigt. Dennoch fehlen für ihn noch wichtige Puzzleteile – etwa, was hinter der Erhöhung des Blutzuckers steckt: «Ob Süsstoffe auch zu einer Erhöhung der Insulinproduktion oder einer Senkung der Insulinsensitivität führen, wurde nicht ausreichend erfasst. Damit wird eine Abschätzung des kardiometabolischen Risikos schwierig.»

Auch bei der Interpretation der Arbeit sollte man Prof. Fäh zufolge vorsichtig sein: «Ob Süssstoffe die Entwicklung von Adipositas, Diabetes oder kardiovaskulären Erkrankungen beeinflussen, lässt sich aus diesen Daten nicht ableiten.» Dies könne – aufgrund der längeren Laufzeit – vor allem im Zuge von Beobachtungsstudien erforscht werden. Und die sind nicht gerade eindeutig: «Eine Metaanalyse von 56 Beobachtungsstudien und randomisierten kontrollierten Studien ergab, dass ein Umstieg von zuckerhaltigen auf künstlich gesüsste Getränke bei Normalgewichtigen keinen Effekt auf das Gewicht hatte, wohingegen Menschen mit Übergewicht und Adipositas im Schnitt rund 2 Kilo abnahmen (2). Eine weitere Metaanalyse von Beobachtungsstudien zeigte, dass der Konsum künstlich gesüsster Getränke mit einem vergleichbar erhöhten Gesamtsterberisiko assoziiert war wie dasTrinken von zuckerhältigen Getränken (3).»

Von gesüssten Getränken Abstand nehmen

Grundsätzlich solle man auf süsse Getränke – egal ob mit Zucker oder Süssstoffen versetzt – eher verzichten, so Prof. Fäh. «Wenn jemand sehr viele zuckergesüsste Getränke konsumiert, kann man die künstlich gesüssten Getränke vielleicht temporär einsetzen. Das Ziel sollte aber sein, auf ein kalorienfreies und nicht süss schmeckendes Getränk – etwa Wasser oder Tee – umzustellen.»

Süssstoffen ganz auszuweichen ist heute aber wahrscheinlich gar nicht mehr möglich. «Diese befinden sich mittlerweile in relativ vielen prozessierten Lebensmitteln (z.B. in Süsswaren, Kaugummis oder Konserven).» Auch die Zutatenliste zu lesen ist dabei nicht immer aufschlussreich: «Zusatzstoffe wie Süssungsmittel verbergen sich häufig in Zahlen- und Buchstabenkombinationen.»

Aus diesem Grund ist die untersuchte Studienpopulation für Prof. Fäh auch nur bedingt repräsentativ. «Es gibt nicht viele Menschen, die in ihrer Ernährung komplett auf Süssstoffe verzichten. Das waren möglicherweise nicht nur Leute ohne Risikofaktoren, sondern auch Menschen, die einen besonders gesunden Lebensstil verfolgen.»

Referenzen
  1. Suez J et al. Personalized microbiome-driven effects of non-nutritive sweeteners on human glucose tolerance. Cell. 2022 Aug 17:S0092-8674(22)00919-9. doi: 10.1016/j.cell.2022.07.016.
  2. Toews I et al. Association between intake of non-sugar sweeteners and health outcomes: systematic review and meta-analyses of randomised and non-randomised controlled trials and observational studies. BMJ. 2019 Jan 2;364:k4718. doi: 10.1136/bmj.k4718. Erratum in: BMJ. 2019 Jan 15;364:l156.
  3. Mullee A et al. Association Between Soft Drink Consumption and Mortality in 10 European Countries. JAMA Intern Med. 2019 Nov 1;179(11):1479-1490. doi: 10.1001/jamainternmed.2019.2478.