Medical Tribune
24. Sept. 2024Das Therapieziel ist nicht zwingend die Abstinenz

Suchterkrankungen: Herausforderungen und Therapiemöglichkeiten

Suchterkrankungen sind chronische Leiden und haben unabhängig von der Substanz eine bescheidene Heilungsrate. Sie gehen einher mit hoher Rezidivrate, Komorbidität und Mortalität. Einen Einblick in die Suchtmedizin aus der internistischen Perspektive gibt Professor Dr. Philip Bruggmann, Co-Chefarzt Innere Medizin Arud Zentrum für Suchtmedizin Zürich.

Suchterkrankungen gehen oft mit Stigmatisierungen einher.
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Eine Substanzabhängigkeit beginnt meist mit einem sporadischen hedonistischen Genusskonsum, der sich über lange Zeit unmerklich zu einem problematischen und schliesslich einem abhängigen Konsum entwickelt.

Bei gutem Verlauf, guter Therapie und gutem Selbstmanagement kann sich diese Entwicklung auch wieder umkehren.

Jeder 5. Schweizer hat eine Suchterkrankung

Das Suchtrisiko wird von genetischen Komponenten, dem sozialen Umfeld und der persönlichen Vulnerabilität beeinflusst.

Auch psychische Erkrankungen fördern eine Substanzabhängigkeit, dazu gehören:

  • Depression,
  • Angst,
  • ADHS,
  • Persönlichkeitsstörungen, oder
  • Schizophrenien.

Nikotin und Heroin haben das grösste Suchtpotenzial, gefolgt von Kokain, Alkohol, Cannabis. Deutlich weniger süchtig machen andere psychedelische Substanzen, wie etwa Partydrogen.

In der Schweiz ist jeder Fünfte von Alkohol, Cannabis, Opioiden oder Kokain abhängig. Am verbreitetsten ist die Nikotinsucht mit einer Prävalenz von 20 Prozent. An zweiter Stelle steht die Alkoholsucht. Auf sie fällt ein Anteil von drei Prozent in der Schweizer Bevölkerung.

Stigmatisierung ist immer noch ein Problem

Eine Abhängigkeitserkrankung geht mit internistischen Problemen einher. Dazu gehören Organschäden, Infektionskrankheiten, Fehl-/Mangelernährung. «Viele Suchtpatienten sind medizinisch schlecht versorgt», betont Prof. Bruggmann (1). Sie sind zwar meistens im Gesundheitswesen eingebunden, doch nur wenige von ihnen werden auf eine Suchterkrankung gescreent und behandelt.

Ein wesentlicher Grund für die Versorgungslücke ist die Stigmatisierung, die selbst im Gesundheitswesen noch immer ein Thema ist. So sind medizinische Fachkräfte im Umgang mit Suchtpatienten nach wie vor oft überfordert. Einigen fehlt auch das suchtmedizinische Wissen.

«Mit Blick auf die Versorgungslücke sollten Ärzte das Thema Sub­stanzkonsum vermehrt aktiv ansprechen», erklärt Prof. Bruggmann. Einfache Tools, wie der Audit Score für Alkohol oder der Assist Score für psychotrope Substanzen, liefern ohne grossen Zeitaufwand Anhaltspunkte auf einen möglichen problematischen oder gar abhängigen Konsum. Die Akzeptanz von Screening Verfahren ist gut. «Viele Patienten begrüssen gar, wenn sie vom Arzt auf ihren Substanzkonsum angesprochen werden, sagt Prof. Bruggmann.

Konsumfreie Tage fix einplanen

Eine Suchterkrankung hat viele Facetten, die Therapie erfolgt interdisziplinär. Einen ersten Schritt stellt oft ein Konsumtagebuch dar, in das die Patienten notieren, wann, wie viel und in welchem Kontext sie konsumiert haben. Aus­serdem werden Konsum- und konsumfreie Tage fix eingeplant. Der Verzicht auf Substanzkonsum soll möglichst an zwei aufeinanderfolgende Tage erfolgen und im Verlauf nach und nach ausgedehnt werden. Wichtig ist ein motivierender, nicht wertender Gesprächsstil.

«Abstinenz ist medizinisch sicherlich das beste Therapieziel und sollte immer thematisiert werden», betonte der Experte. Gleichwohl wird die Behandlung zieloffen angegangen. Denn die Mehrheit der Suchtpatienten kann oder will eine Abstinenz nicht erreichen. «Abstinenz ist auch gar nicht immer angezeigt», so Prof. Bruggmann. Im Opioidbereich zum Beispiel ist die Phase vor Erreichen der Abstinenz mit der höchsten Mortalität assoziiert.

Ähnlich hoch ist das Sterberisiko auch bei einem Rückfall in den Opioid-Konsum. Hinzu kommt, dass es insbesondere für die Alkoholsucht zwischenzeitlich erfolgreiche Modelle mit einem kontrollierten, reduzierten Konsum und Schadensminderung gibt.

Gute Evidenz für E-Zigaretten

Für die Entwöhnung von einer Nikotinsucht besteht laut dem Referenten eine gute Evidenz für E-Zigaretten. Mit diesen Geräten kann sogar öfters ein Rauchstopp erreicht werden als mit Nikotinersatzprodukten. «Trotzdem sollte in einem zweiten Schritt die Abstinenz von E-Zigaretten angestrebt werden. Denn auch sie enthalten Schadstoffe», betont er. Bei Jugendlichen komme hinzu, dass sie rasch eine Abhängigkeit von E-Zigaretten entwickeln.