Multiple Sklerose und Schwangerschaft – längst kein No-Go mehr
Am diesjährigen MS-State-of-the Art-Symposium gehörte das Thema «MS und Schwangerschaft» zu den Hot Topics, mit einem Vortrag und anschliessender Experten-Diskussionsrunde. Einer dieser Experten, Professor Dr. Daniel Surbek, Ordinarius und Chefarzt der Universitätsklinik für Frauenheilkunde, Inselspital Bern, stand für ein Interview zur Verfügung.
Welche Erfahrungen machten Sie mit Frauen mit MS in Ihrer Sprechstunde, wenn es um das Thema Familienplanung und Schwangerschaft geht?
Prof. Surbek: Viele betroffene Frauen wissen bereits sehr gut Bescheid und sind informiert, dass aufgrund ihrer MS eine sorgfältige Vorbereitung einer Schwangerschaft, gemeinsam mit dem zuständigen Neurologen und dem Geburtshelfer, entscheidend ist für den Schwangerschaftsverlauf. Vielen ist auch die Relevanz einer zuverlässigen Kontrazeption bekannt, insbesondere wenn sie unter medikamentöser Behandlung der MS stehen. Dennoch ist eine ausführliche Beratung zu den Themen Kontrazeption, Vorbereitung der Präkonzeptionsphase, sowie Schwangerschaft/Stillzeit durch die betreuenden Gynäkologen/Geburtshelfer von entscheidender Bedeutung.
Wie beraten Sie junge Frauen mit MS in Ihrer gynäkologischen Sprechstunde hinsichtlich Familienplanung?
Prof. Surbek: Folgende Themenbereiche sind relevant für meine Beratung:
- Wichtigkeit und Möglichkeiten der Kontrazeption, inklusive verschiedene Methoden
- notwendige Planung und Vorbereitung vor einer Schwangerschaft
- Effekte einer Schwangerschaft und der postpartalen Zeit auf den Verlauf einer MS
- umgekehrt der Einfluss einer MS auf eine Schwangerschaft und damit verbundene Risiken
- mögliche Einflüsse der medikamentösen Therapie der MS auf die Schwangerschaft, den Embryo/Fetus und auf das Neugeborene während der Stillzeit
- Notwendigkeit einer spezialisierten interdisziplinären Betreuung und spezifische Massnahmen im Falle einer eingetretenen Schwangerschaft.
Welche der aktuell in der Schweiz zugelassenen MS-Medikamente gelten als unbedenklich in der Schwangerschaft?
Prof. Surbek: Viele neue, sehr wirksame sogenannte DMT’s (disease modifying therapies) sind zugelassen, aber es bestehen beträchtliche Einschränkungen, welche die Therapie vor der Schwangerschaft, während Schwangerschaft und während der Stillzeit betreffen. In Einzelfällen müssen sogar Vorsichtsmassnahmen getroffen werden, wenn der von MS betroffene Partner einer Frau unter einer spezifischen Therapie steht und sie eine Schwangerschaft planen.
Wenn es bei einer Frau mit MS zu einer ungeplanten Schwangerschaft kommt – welche Therapien müssen abgesetzt oder umgestellt werden?
Prof. Surbek: Dieses Thema ist komplex, und es kann keine generelle Empfehlung für alle DMT’s gegeben werden. Wir sind aktuell daran, eine Guideline für die Schweiz zu publizieren, in Zusammenarbeit mit dem medizinisch-wissenschaftlichen Board der Schweizerischen Multiple Sklerose Gesellschaft, der Schweizerischen Gesellschaft für Neurologie und der Schweizerischen Gesellschaft für Gynäkologie und Geburtshilfe. Dabei geben wir konkrete Empfehlungen hinsichtlich der Verwendung spezifischer MS-Medikamente (DMT’s) im Rahmen der Behandlung vor, während und nach einer Schwangerschaft. Wichtig ist in jedem Fall, ungeplante Schwangerschaften durch gute Beratung zu vermeiden.
Unter welchen MS-Therapien muss eine wirksame Kontrazeption sichergestellt werden?
Prof. Surbek: Grundsätzlich ist bei jeder Therapie der MS eine zuverlässige Kontrazeption wichtig, wenn keine Schwangerschaft geplant ist. In unserer Guideline ist für jedes Medikament angegeben, ob ein teratogenes Potenzial existiert.
Wenn eine Frau zum Zeitpunkt der MS-Diagnose bereits Mutter ist und ein weiteres Kind möchte – kann man aus der zurückliegenden Schwangerschaft Rückschlüsse für den künftigen Verlauf ziehen?
Prof. Surbek: Ja durchaus, eine «Faustregel» besagt, dass eine vorhergehende, unkompliziert verlaufene Schwangerschaft und Termingeburt mit gesundem Kind die Wahrscheinlichkeit verbessert, dass die nächste Schwangerschaft erneut problemlos verläuft. Nichtsdestotrotz kann es bei Frauen mit MS zu Komplikationen kommen, insbesondere bei denjenigen, welche unter einer Therapie mit DMTs stehen. Daher müssen diese Frauen in jedem Fall eine spezialisierte Betreuung während der Schwangerschaft erhalten.
Ist es vertretbar, eine MS-Medikation, die für stillende Frauen kontraindiziert ist, nach der Entbindung umzustellen, wenn eine Frau unbedingt stillen möchte?
Prof. Surbek: In dieser Situation muss zwischen dem Benefit des Stillens für Mutter und Kind versus erwarteter Benefit der jeweiligen Therapie für die Frau abgewogen und mögliche Alternativen in Betracht gezogen werden. Dazu braucht es eine fachärztliche Beratung durch einen Neurologen und Gynäkologen/Geburtshelfer.
Immer wieder taucht das Risiko für ein zu geringes Geburtsgewicht von Neugeborenen als Argument gegen eine Schwangerschaft bei MS auf. Was meinen Sie dazu?
Prof. Surbek: Frauen mit MS ohne Therapie während der Schwangerschaft haben kein erhöhtes Risiko für ein untergewichtiges Neugeborenes im Vergleich zu gesunden Frauen. Anders sieht es aus bei Frauen mit MS unter DMTs. Hier ist das Risiko u.a. abhängig vom spezifischen Medikament. Ein wichtiger Punkt ist zudem, dass psychischer Stress per se zur intrauterinen Wachstumseinschränkung des Fetus führen kann. Daher sollte auf ein gutes psychisches Gleichgewicht während der Schwangerschaft geachtet und bei Bedarf eine psychische Mitbetreuung durch Hebammen und/oder Psychologen empfohlen werden.
Besten Dank für das Gespräch!