Medical Tribune
23. Mai 2023Abklärung und Therapie von Adipositas im Kindes- und Jugendalter

«Im Wachstum genügt es, das Gewicht zu stabilisieren»

Bei der Betreuung von Kindern mit Adipositas gilt es einige Besonderheiten zu beachten, sagt Dr. Odile Gaisl, Oberärztin am Kinderspital in Zürich (1). Dazu gehört es, den Stoffwechsel im Blick zu behalten, und immer die gesamte Lebenssituation des Kindes oder Jugendlichen miteinzubeziehen.

Kinder mit Adiposias müssen im Erwachsenenalter nicht notwendigerweise übergewichtig sein.
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«Kinder mit Adiposias müssen im Erwachsenenalter nicht notwendigerweise übergewichtig sein» sagt Dr. Odile Gaisl, Oberärztin am Kinderspital in Zürich.

«Schon die Definition Adipositas unterscheidet sich bei Kindern und Erwachsenen», erklärt die Kinderärztin und pädiatrische Endokrinologin. So wird in der Pädiatrie ein individueller BMI bestimmt. Er berücksichtigt Wachstum und Körperzusammensetzung. Dazu wird der klassische BMI, der bei Erwachsenen zur Anwendung kommt, mit alters- und geschlechtsbezogenen Perzentilen verglichen. In der Schweiz gilt: Ein BMI zwischen der 90. und 97. Perzentile bedeutet Übergewicht, ein BMI über der 97. Perzentile Adipositas und ein BMI über der 99,5. Perzentile extreme Adipositas. Der Anteil der übergewichtigen und adipösen Kinder und Jugendlichen ist hierzulande seit einigen Jahren stabil und beträgt etwa 15 Prozent.

Haben die Eltern Adipositas, steigt das Risiko auf bis zu 80 Prozent

«Ein wichtiger Risikofaktor für eine Adipositas beim Kind ist elterliche Adipositas», erklärte Dr. Gaisl. So beträgt das Basisrisiko für eine Adipositas beim Kind neun Prozent, wenn beide Elternteile normalgewichtig sind. Ist bei einem Elternteil eine Adipositas vorhanden, steigt es auf bis zu 50 Prozent, sind Mutter und Vater betroffen gar auf bis zu 80 Prozent.

Auch ein niedriger sozioökonomischer Status, perinatale Faktoren wie ein Gestationsdiabetes, Rauchen oder starke Gewichtszunahme der Mutter während der Schwangerschaft sowie Nichtstillen gehen mit einem erhöhten kindlichen Adipositas-Risiko einher. «In der Praxis sollte deshalb Frauen mit Kinderwunsch und Adipositas bereits vor einer Schwangerschaft eine BMI-Reduktion empfohlen und bei Risikogruppen das Stillen gezielt gefördert werden», rät Dr. Gaisl.

Weitere Risikofaktoren sind starke Gewichtszunahme im ersten Lebensjahr, eine kalorienreiche Lebensmittelzufuhr, zum Beispiel durch einen hohen Konsum zuckerreicher Softdrinks, und körperliche Inaktivität.

Einmal dick – nicht immer dick

Nicht jedes Kind mit Adipositas ist automatisch auch im Erwachsenenalter dick. «Kinder mit Adipositas haben zwar ein fünffach erhöhtes Risiko, auch im Erwachsenenalter eine solche aufzuweisen», so die Referentin. Von den 30-Jährigen mit Adipositas waren aber nicht alle, sondern etwa 70 Prozent bereits als Kind übergewichtig.

Die Basisabklärung beinhaltet eine fundierte Anamnese. Bei Jugendlichen sollten dazu immer die HEADSSS-Bereiche (HEADSSS: Home, Education, Activity, Drugs, Seeks, Sexuality, Safety) abgefragt werden. Die körperliche Untersuchung umfasst in der Pädiatrie auch den Tanner-/Pubertätsstatus. Für die Abklärung sind Blutdruck, Lipidstatus und ab der Pubertät zusätzlich die Glukose im Urin, das HbA1c kapillär und die Insulinresistenz mit Hilfe des HOMA-Index zu erfassen.

Schilddrüsenwerte können ausgelassen werden

Nicht gemessen werden üblicherweise die Schilddrüsenwerte. «Denn Kinder mit Adipositas haben oft ein leicht erhöhtes TSH, das meistens nicht behandlungsbedürftig ist», erläutert die Referentin. Sinnvoll ist es hingegen, Grösse und Gewicht mit den altersentsprechenden Perzentilenkurven zu vergleichen. «In der Regel wachsen Kinder mit Adipositas, bevor sie in die Pubertät kommen, in Bezug auf ihr Knochenalter sehr schnell.»
Als Warnzeichen, die eine weiterführende Diagnostik erfordern, sind anzusehen:

  • Kleinwuchs
  • eine verminderte Wachstumsgeschwindigkeit
  • Entwicklungsretardierung,
  • Visus-/Hirnnervenausfälle
  • Diabetes insipidus
  • frühkindliche extreme Adipositas und Dysmorphiezeichen.

Motivation ist ausschlaggebend

Die Therapie beinhaltet in der ersten Linie Psycho-/Verhaltenstherapie, Ernährungsberatung und Bewegung und sollte multidisziplinär erfolgen. «Eine Behandlung ist aber nur sinnvoll, wenn das Kind selbst auch motiviert ist, Gewicht zu verlieren», betont die Expertin. Fehlt die Motivation, ist eine regelmässige Kontrolle notwendig. Zudem sollte den Kindern immer wieder eine Unterstützung zugesichert werden, falls sie später ihr Gewichtsproblem angehen wollen.

Das Behandlungsziel während des Wachstums heisst Gewichtsstabilisierung. Eine Normalisierung erfolgt mit fortschreitendem Wachstum von selbst. «Immer in die Therapie miteinzubeziehen sind – auch bei 15-jährigen Jugendlichen – die Eltern», betont Dr. Gaisl.

Spezialist ist gefragt, wenn sich nach sechs Monaten noch kein Erfolg eingestellt hat

Stellt sich nach sechs Monaten kein Erfolg ein, ist der Spezialist gefragt. Das gilt ebenfalls, wenn eine Essstörung oder eine andere Komorbidität vorliegt und wenn die Evaluation einer medikamentösen oder bariatrischen Behandlung ansteht. Für eine medikamentöse Therapie stehen in der Schweiz für Jugendliche ab zwölf Jahren der Lipasehemmer Orlistat und der GLP1-Rezeptoragonist Liraglutid zur Verfügung.