Medical Tribune
16. Apr. 2023Restart fürs Immunsystem

aHSCT: Stammzelltherapie kann bei manchen neurologischen Erkrankungen sinnvoll sein

Die autologe Blutstammzelltransplantation (aHSCT) wurde in den Medien schon als Wundermittel gegen MS und andere immunvermittelte neurologische Erkrankungen gefeiert. Verständlich, dass viele Patienten danach fragen. Doch für wen ist die Behandlung wirklich geeignet?

Eine aHSCT kann bei manchen neurologischen Erkrankungen Linderung bringen.
Destonian/gettyimages

Eine autologe hämatopoetische Stammzelltransplantation (aHSCT) soll das autoreaktive Immunsystem quasi zu einem «Reboot» veranlassen. Das Verfahren wird derzeit bei bestimmten immunvermittelten neurologischen Erkrankungen erprobt. Dazu gehört etwa die Multiple Sklerose (MS), aber auch die chronische inflammatorische demyelinisierende Neuropathie (CIDP), Neuromyelitis optica, das Stiff-Person-Syndrom und Myasthenia gravis.

Kein Wundermittel, aber manchmal effektiv

Einige ausgesuchte Patienten mit diesen Krankheiten könnten tatsächlich von einer aHSCT profitieren, ist in einer aktuellen Übersichtsarbeit zu lesen (1). Ein Wundermittel ohne Nebenwirkungen, wie es z.T. im Internet dargestellt wird, sei die Methode aber nicht.

Einige Patienten haben – zumindest in Grossbritannien – offenbar das Gefühl, dass ihre Ärzte sie unzureichend über die neue Therapie­option informieren. Recherchieren sie dann auf eigene Faust im Internet, stossen sie zum Teil auf unseriöse Anbieter und viele Indikationen, die nicht offiziell empfohlen werden. Oft handelt es sich gar nicht um immunvermittelte Erkrankungen.

Im Register der European Society for Blood and Marrow Transplantation (EBMT) waren bis 2021 rund 2.000 Behandlungsversuche mit einer aHSCT bei immunvermittelten neurologischen Erkrankungen erfasst, davon 1.875 bei Multipler Sklerose. Anfangs wurden zumeist MS-Patienten in der progressiven Krankheitsphase und mit bereits hohem Behinderungsgrad behandelt. Heute konzentriert sich die Behandlung eher auf die Phase der aktiven Inflammation. Hier lässt sich durch die aHSCT die Krankheitsaktivität bei schubförmiger MS (RRMS) komplett unterdrücken.

85 Prozent der Teilnehmer blieben fünf Jahre rezidivfrei

In der bisher einzigen prospektiven Studie, in der nur Patienten mit hochaktiver RRMS eingeschlossen waren, lag die Rate an progressionsfreiem 5-Jahres-Überleben bei 90 Prozent. Bei 85 Prozent der Teilnehmer verlief dieser Zeitraum ohne Rezidive.

Grundsätzlich sind schwere Nebenwirkungen auch bei einer aHSCT möglich, bislang sind diese in den MS-Studien aber nicht aufgetreten. Am häufigsten waren Fatigue, Elektrolytstörungen und eine vorübergehende Transaminasenerhöhung – die Infektionsrate unterschied sich mit 0,19 Infektionen/Patientenjahr nicht von der Standardbehandlung. Als belastend empfanden viele MS-­Patienten die Phase der Isolation und eingeschränkten Mobilität, die zum Teil mit einer erhöhten Spastizität und reduzierter Gehfähigkeit einherging. Spezielle Rehabilitationsmassnahmen können daher erforderlich sein.

Grad-I-Evidenz für bestimmte RRMS-Fälle

Empfohlen wird die aHSCT heute mit einer Grad-I-Evidenz für Patienten mit hochaktiver RRMS, bei denen die Standardtherapien versagt haben. Auch bei anderen immunvermittelten neurologischen Erkrankungen, die auf Standardtherapie nicht ansprechen, kann eine aHSCT in Erwägung gezogen werden. Wichtig ist in jedem Fall die sorgfältige Selektion geeigneter Patienten. Ausserdem sollte die Therapie in akkreditierten Zentren stattfinden, in denen die Patienten von multidisziplinären Teams betreut und in klinische Studien eingeschlossen werden, so Dr. Brittain. Unter dem Strich könnte die aHST auch ökonomisch interessant sein, da auf lange Sicht die Kosten für andere Behandlungen und weitere medizinische Interventionen eingespart werden können.

Die drei Phasen der Stammzelltherapie

1. Mobilisierung

Die Patienten erhalten zuerst den Botenstoff G-CSF (Granulozyten-Kolonie-stimulierender Faktor) plus Cyclophosphamid gegen die mögliche G-CSF-induzierte Krankheitsaktivierung. Danach werden die Stammzellen mittels Apherese "geerntet"

2. Konditionierung

Es erfolgt eine kurze (aber intensive) Chemotherapie plus T-Zell-depletierende Serotherapie. Danach werden die autologen Stammzellen reinfundiert. Für etwa vier Wochen, bis zum Angehen des Implantats, müssen die Patienten stationär überwacht werden und erhalten eine supportive Therapie (protektive Isolation, Antiinfektiva, Transfusionen etc.)

3. Follow-up

Nach Entlassung ist über etwa drei Monate ein Schutz durch antifungale und antivirale Medikamente nötig, ausserdem Antipneumocystis-Prophylaxe, Screening auf Cytomegalie und Epstein-Barr. Ggf. ist eine Rehabilitation aufgrund der langen Immobilisierung angezeigt.

Referenz

  1. Brittain G et al. Autologous haematopoietic stem cell transplantation for immune-mediated neurological diseases: what, how, who and why? Pract Neurol. 2023 Apr;23(2):139-145. doi: 10.1136/pn-2022-003531. Epub 2022 Sep 26. PMID: 36162855.