Medical Tribune
29. Aug. 2013Der seltene Gehirntumor

Patienten mit Akustikusneurinom brauchen intensive Beratung

Mit einer jährlichen Inzidenz von etwa 1/100 000 Einwohner gehören Akustikusneurinome zu den selteneren Gehirntumoren. Bei der Neurofibromatose Typ 2 (M. Recklinghausen) entwickeln jedoch bereits junge Erwachsene gehäuft bilaterale oder grosse solitäre Akustikusneurinome.

Senior drückt mit seinen Finger am Ohr
iStock/Ridofranz

Allerdings ist die hierzulande übliche Bezeichnung "Akustikusneurinom" irreführend, denn über 80 % der Neurinome im Kleinhirnbrückenwinkel gehen nicht vom Hörnerv, sondern vom N. vestibularis superior aus. Deshalb spricht man im angloamerikanischen Raum auch vom "Vestibularisschwannom", so Professor Dr. Paul Kremer und Dr. Helfried Schade vom Kopfzentrum der Hamburger Asklepios Klinik Nord – Heidberg, im "Hamburger Ärzteblatt".

Haben die Tumoren eine gewisse Grösse erreicht, kommen zu den erwähnten Problemen weitere Symptome wie Fazialisparese, zerebelläre Ataxie oder Trigeminussensationen hinzu. Diagnostisch sollte ausser einem Tonaudiogramm und einer Hörbahnableitung frühzeitig eine Bildgebung veranlasst werden – am besten eine mit Kontrastmittel verstärkte Kernspintomographie.

Je nach der räumlichen Beziehung zum Meatus acusticus werden die Tumoren als rein intrameatal oder intra- und extrameatal bezeichnet. Ausserdem teilt man sie entsprechend dem Durchmesser in kleinere (< 3 cm) und grössere (> 3 cm) Akustikusneurinome ein.

Manche Tumoren bleiben zeitlebens klein

Da immer wieder Langzeitverläufe ohne Tumorwachstum vorkommen, kann man bei kleinen, rein intrameatal gelegenen und nur von geringen Beschwerden begleiteten Akustikusneurinomen oder bei älteren Patienten zunächst abwarten. Allerdings sollte man den Tumor dann regelmässig überwachen ("wait and scan"), empfehlen die Hamburger Kollegen.

Anders ist die Situation, wenn das Akustikusneurinom bereits Kontakt zum Hirnstamm hat, langsam fortschreitet oder zu zunehmenden Beschwerden führt – dann sollte unbedingt eine Behandlungsstrategie mit dem Patienten festgelegt werden. Auch jüngeren Patienten sollte man zu einer Therapie raten, da das Behandlungsrisiko bei zunehmender Symptomatik oder weiterem Tumorwachstum ansteigt.

Therapie mit dem Messer oder mit Strahlen

Es gibt verschiedene Therapieoptionen: die mikrochirurgische Tumorentfernung oder eine stereotaktische radiochirurgische bzw. fraktionierte stereotaktische Strahlentherapie. Nur bei grossen raumfordernden Akustikusneurinomen oder bei Patienten mit tumorbedingter Liquorzirkulationsstörung (Hydrocephalus occlusus) führt kein Weg an der Operation vorbei.

Bei kleineren, in der Regel intrameatal liegenden Akustikusneurinomen ist die Therapieentscheidung vor allem dann schwierig, wenn noch ein Resthörvermögen besteht. Der fast hundertprozentigen chirurgischen Radikalität steht eine Tumorkontrollrate von 98 % nach drei Jahren und von 96 % nach fünf Jahren bei der Strahlentherapie gegenüber.

Oberstes Gebot: Akustikus und Fazialis schonen

Und wie gut bleibt die Funktion des Hör- bzw. Gesichtsnervs erhalten? Die Strahlentherapie bietet zwar eine verminderte periprozedurale Morbidität, doch müssen eventuelle Spätwirkungen der Radiotherapie bedacht werden. Für den Nervus cochlearis zeigt sich ein kontinuierlich abnehmender Funktionserhalt von 83 %, 76 % und 69 % ein, fünf und zehn Jahre nach einer Strahlentherapie.

Nach Radiatio drohen Spätschäden

Was den Funktionserhalt des Nervus facialis anbelangt, scheint sich ein Vorteil für die  fraktionierte stereotaktische Radiotherapie gegenüber der stereotaktischen Radiochirurgie zu ergeben (98 % vs. 83 %). Dabei wirken sich verschiedene Dosisapplikationen unterschiedlich auf die Nervenfunktion aus.

Ob sich Operation oder Bestrahlung besser eignen, bleibt eine schwierige Einzelfallentscheidung, die offen mit dem Patienten diskutiert werden sollte. Neben Tumorgrösse, Lebensalter und allgemeinem Gesundheitszustand des Kranken spielt natürlich auch die Kompetenz des Behandlungszentrums eine Rolle.

Quelle: Paul Kremer et al., Hamburger Ärzteblatt 2012; 66: 20-23, © Hamburger Ärzteblatt