Medical Tribune
26. März 2024Mythen zu Dosis, Dauer und Applikationsart unter der Lupe

Entscheidungsfindung in der Antibiotika-Therapie

Um die Antibiotika-Therapie ranken sich Mythen. So gehen viele davon aus, dass Antibiotika helfen, Komplikationen zu vermeiden, und eine perorale Gabe in Bezug auf die Resistenzlage harmloser sei als eine parenterale. Doch was ist an diesen Aussagen dran?

Viele Mythen ranken sich um die Antibiotika Behandlung.
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Einige Beobachtungsdaten werfen Fragen auf, ob die frühe Antibiotika-Therapie einer Otitis media Komplikationen wie eine Mastoiditis verhindern kann.

«Die Anzahl notwendiger Behandlungen (NNT) ist dabei aber mit 4.831 sehr hoch», erklärt PD Dr. Julia Bielicki, Leitende Ärztin Pädiatrie und Infektiologie im Universitäts-Kinderspital beider Basel am FomF Pädiatrie Update Refresher.

Über 700.000 Antibiotika-Verordnungen könnten jährlich eingespart werden

Sie verweist dazu auf eine englische Kohortenstudie mit Daten von 2,6 Millionen Kindern aus der Primärversorgung. Die Auswertung zeigt auch: Würde keines der Kinder behandelt, gäbe es pro Jahr 255 Mastoiditis-Fälle mehr, und es könnten allein in Grossbritannien 738.800 Antibiotika-Verordnungen eingespart werden (1).

«Auf Populationsebene gäbe es also eine deutlich geringere Exposition», hält die Referentin zunächst fest. Der Nutzen für das einzelne Kind sei aber sehr gering. Aufgrund der Daten behandelt sie selbst Kinder mit Otitis media oder akuter Sinusitis mit Antibiotika nicht primär, um eine Komplikation zu vermeiden.

Auch bei Infektionen mit Gruppe-A-Streptokokken vorerst zuwarten

Die aktuellen Schweizer Richtlinien empfehlen, bei Streptokokken-A-Infektionen vorerst zuzuwarten. Im Verlauf soll dann nur antibiotisch behandelt werden, wenn die Diagnose gesichert ist.

Alte Daten zeigen, dass Antibiotika allenfalls die Symptomdauer etwas verkürzen können (2). Die Relevanz dieser Verkürzung um oft weniger als einen Tag ist aber fraglich», sagt Dr. Bielicki. Für die meisten Infektionen in der Praxis und auf Notfallstationen in der Schweiz ist der Nutzen einer Antibiotika-Therapie sowohl für die Verhinderung von Komplikationen als auch für die Genesung für den einzelnen Patienten sehr gering, so ihr Fazit.

Herausforderungen für Familien

Ein weiterer Mythos suggeriert: Mehr hilft mehr. Wenige Daten zeigen einen kleinen mikrobiobiologischen Vorteil von höheren Dosen. Den klinischen Nutzen belegen sie indes nicht. Eine Forschergruppe um Dr. Bielicki untersuchte deshalb in einer placebokontrollierten, randomisierten Studie mit 814 Kindern mit einer ambulant erworbenen Pneumonie die Wirksamkeit von zwei Amoxicillin-Dosierungen (3).

Die Behandlung mit der niedrigeren Dosis war derjenigen mit der höheren nicht unterlegen. «In einer Region mit tiefer Pneumokokken-Resistenzrate wie der Schweiz kann also getrost mit einer tieferen Amoxicillin-Dosis in zwei Gaben behandeln, ohne dass ein Nachteil für den Patienten entsteht», schliesst Dr. Bielicki.

Aufgrund der Studienlage empfiehlt auch die WHO, eine Pneumonie und andere mit Amoxicillin behandelbare Atemwegsinfektionen zweimal täglich statt wie üblich dreimal täglich zu behandeln.

«Der Vorteil der niedrigeren Dosierungen ist auch, dass ein deutlich geringeres Volumen appliziert werden muss», so die Referentin. Dies ermöglicht es den Eltern, ihrem Kind oft schlecht schmeckende Antibiotika zu verabreichen und sich trotzdem an die verordnete Dosierung zu halten.

Oral oder parenteral?

Jedes Antibiotikum beeinflusst das Mikrobiom und kann Nebenwirkungen wie Hautausschlag und gastrointestinale Probleme verursachen. Das Nebenwirkungsprofil unterscheidet sich aber von Antibiotikum zu Antibiotikum. So treten unter der Kombination Amoxicillin/Clavulansäure Erbrechen und Durchfall wesentlich häufiger auf als unter Amoxicillin (19,1.% vs. 8,1%) (4). Ob Antibiotika oral oder parenteral appliziert werden, spielt dabei laut Dr. Bielicki eine untergeordnete Rolle.

Die Applikationsart hat aber einen Effekt auf die Resistenzbildung. Im Mausexperiment führte die perorale Gabe einer höheren Antibiotika-Dosis zu einer grösseren Resistenzselektion als die parenterale Applikation in gleicher Dosierung (5). Untersuchungen mit Schweinen zeigten zudem, dass die perorale Gabe im Gegensatz zur parenteralen Applikation zu Kreuzresistenzen führen kann (6).

Natürlich ist die parenterale Gabe im ambulanten Setting nur selten möglich und indiziert. Die grosszügige Verordnung von oralen Antibiotika für eher milde, in der Praxis typische Infektionen könnte aber das Auftreten von Resistenzen stärker fördern als die parenterale Gabe von Breitspektrum-Antibiotika in der Klinik.

Antibiotika-Exposition und Dauer fördern Resistenzen

Ein klarer Zusammenhang besteht zwischen Exposition und Resistenzentwicklung. «Jede Antibiotikabehandlung erhöht das Resistenzrisiko für zukünftige Infektionen», erläutert die Expertin. Ein Kind, das kürzlich Antibiotika bekommen hat, hat somit ein erhöhtes Risiko für ein Nichtansprechen bei einer weiteren Infektion.

Auch steigt mit jedem zusätzlichem Expositionstag das Risiko für den Nachweis resistenter Keime im Anschluss an die Episode um etwa vier Prozent. «Das bedeutet, auch die Dauer der Antibiotika-Therapie spielt für die Resistenzentwicklung eine Rolle», so Dr. Bielicki.