Medical Tribune
21. Juli 2023Vom gesunden Essen zum beherrschenden Thema

Orthorexie: Zwischen Ess- und Zwangsstörung

Bei manchen ist eine Diät der Auslöser, bei anderen ein belastendes Lebensereignis: Menschen mit Orthorexie beschäftigen sich intensiv bis zwanghaft mit Ernährungsweisen, die sie für gesund halten. Mit ihrem Fanatismus geraten sie oft in soziale Isolation.

Menschen mit Orthorexie stossen bei Anderen oft auf Unverständnis.
Vadym Petrochenko/gettyimages

Menschen mit Orthorexie stossen bei Anderen oft auf Unverständnis.

Das Krankheitsbild Orthorexie findet sich bislang in keinem Diagnosemanual. In der Forschung erhält diese Variante pathologischen Essverhaltens – oft auch als Orthorexia nervosa bezeichnet – aber seit einer Weile grössere Aufmerksamkeit. Unter Orthorexie vesteht man eine sorgenvolle Beschäftigung mit gesunder Ernährung, die dazu führt, dass die Gedanken fast nur noch um das Thema Essen und «erlaubte» Lebensmittel kreisen.

Daraus resultieren eine anhaltende Beunruhigung und stereotypes Verhalten, erklärt Dr. ­Friederike ­Barthels, Abteilung Klinische Psychologie, Universität Düsseldorf (1). Orthorektisches Verhalten zeichnet sich dabei unter anderem dadurch aus, dass es viel Zeit in Anspruch nimmt und Aussenstehenden übertrieben bis extrem erscheint.

Autistische Züge könnten eine Rolle spielen

Betroffene zeigen sowohl Anzeichen, die typisch für Essstörungen sind (z.B. Einteilen von Lebensmitteln in «erlaubt» und «verboten»), als auch Merkmale von Zwangsstörungen (z.B. Angst und Schuldgefühle, wenn die selbst­auf­er­legten Essensregeln übertreten werden).

Forscher aus Italien kamen 2022 in einer Metaanalyse zu dem Schluss, dass orthorektische Symptome stärker mit Ess- als mit Zwangsstörungen assoziiert sind – eine eindeutige nosologische Zuordnung sei aber bis jetzt nicht möglich.

Eine kürzlich publizierte Arbeit spricht dafür, dass orthorektisches Ernährungsverhalten oft mit Symptomen aus dem Autismus-Spektrum einhergeht, z.B. Inflexibilität, Festhalten an Ritualen oder gedankliche Fixierung, in diesem Fall auf «gesundes» Essen.

Orthorexie aufgrund widersprüchlicher Information

Zur Frage, wie Orthorexie entsteht, gab es in den vergangenen Jahren qualitative Studien. Bei einer Reihe von Betroffenen beginnt die Störung demnach damit, dass sie sich über Diäten und gesunde Nahrungsmittel informieren wollen, dabei aber auf Widersprüche treffen.

Um die Verunsicherung aufzulösen, informieren sie sich immer weiter und teilen Lebensmittel irgendwann zur Vereinfachung in gut oder schlecht ein. Andere berichten von biopsychosozialen Faktoren wie Perfektionismus, vorbestehende gastrointestinale Probleme oder besondere Lebensereignisse. Das soziale Umfeld hatte die problematischen Essensfixierungen lange nicht erkannt und war deshalb keine Hilfe.

Krankhaft gesund essen: Die Rolle der sozialen Medien

Soziale Medien beeinflussen das Essverhalten junger Menschen. Eine Studie zeigte, dass es einen Zusammenhang zwischen erhöhten Orthorexiewerten und einer häufigeren Nutzung von Instagram gibt. Allerdings wurde einer anderen Untersuchung zufolge der Hashtag #orthorexia oft im Zusammenhang mit #edrecovery (eating disorders recovery) genutzt. Vielleicht handelt es sich bei diesen Nutzern auch um Menschen, die versuchen, Essstörungen durch tatsächlich gesündere Ernährungsgewohnheiten zu überwinden.

Zur Erfassung von Orthorexie existieren bereits eine Reihe von Fragebogen. Einige davon sind allerdings nicht in der Lage, die Störung spezifisch genug zu erfassen. Daraus resultierten in manchen Publikationen unrea­listisch hohe Prävalenzzahlen, aber auch häufig widersprüchliche Befunde in Bezug auf die vorgeschlagene Erkrankung.

Empfehlenswert und bereits recht etabliert sind der Expertin zufolge der Eating Habits Questionnaire und die Düsseldorfer Orthorexie Skala. Auch für diese Instrumente wünscht sie sich jedoch weitere Evaluationen. In dem 2018 publizierten Teruel Orthorexia Scale (TOS) werden zwei Varianten des gesundheitsbewussten Ernährungsverhaltens unter­schieden:

  • Orthorexia nervosa: gezügeltes Essverhalten, Symptome aus dem Zwangsspektrum, Perfektionismus, geringes Selbstwertgefühl, Leidensdruck, soziale Isolation.
  • «Healthy Orthorexia»: nichtpathologisches Interesse an gesundem Essen, das keinen Leidensdruck verursacht, sondern eher als Lebensstil einzustufen ist.

Die weitere Forschung müsse zeigen, ob Orthorexie ein eigenständiges Störungsbild darstellt und ob sich z.B. das Konzept der «Healthy Orthorexia» als nützlich zur Abgrenzung zu nichtpathologischem Verhalten erweist, so Dr. Barthels.