Medical Tribune
25. Apr. 2023Gliedergürteldystrophien

Gentherapien gegen erblichen Muskelschwund

Patienten mit Gliedergürteldystrophien können in absehbarer Zukunft auf wirksame Gentherapien hoffen. Erste Therapeutika befinden sich bereits in früher klinischer Prüfung.

Bei der Gliedergürteldystrophie könnte es bald erste Erfolge bei Gentherapien geben.
vchal/gettyimages

Zu den Gliedergürteldystrophien (LGMD) gehört eine Vielzahl von autosomal vererbten Erkrankungen, die sich in Verteilungsmuster und Manifestationsalter unterscheiden. Per definitionem handelt es sich um hereditäre primäre Muskelerkrankungen mit progredienter Schwäche vor allem der proximalen Muskelgruppen, ausgelöst durch Muskelfaserverlust, erklärt Prof. Dr. Tim Hagenacker, Universitätsmedizin Essen (1).

Gliedergürteldystrophien unterscheiden sich von den kongenitalen Myopathien

Um sie von kongenitalen Myo­pathien abzugrenzen, wurde festgelegt, dass die betroffenen Patienten das freie Laufen als motorischen Meilenstein erreicht haben müssen. LGMD zählen zu den seltenen Erkrankungen, die Prävalenzen liegen meist zwischen 0,01 und 10/Mio. Einwohner. Zum Vergleich: Die ALS kommt auf 30 bis 80/Mio., die spinale Muskel­atrophie auf 20/Mio.

In den letzten Jahren sind mehr und mehr Proteine und Gene identifiziert worden, die am Krankheitsgeschehen beteiligt sind. Das eröffnet die Chance, auf genetischer Ebene ins Geschehen einzugreifen. Auf dem Weg dorthin warten jedoch noch viele Herausforderungen.

Eine liegt in der hohen Masse der Muskulatur als «Gesamtorgan», was bedeutet, dass viel Vektor benötigt wird. «Hohe Vektorlast heisst aber auch ausgefeiltes Nebenwirkungsmanagement, vor allem wenn Sie an die Muskelmasse eines Erwachsenen denken», betonte Prof. Hagenacker.

Man muss sich daher gut überlegen, wie die Gentherapie verabreicht werden soll – intravenös, intramuskulär oder vielleicht sogar in Blutsperre selektiv in eine Extremität, um die systemische Toxizität so weit wie möglich zu reduzieren? Das funktioniert aber oft nicht, denn viele dieser Erkrankungen sind Multi­systemerkrankungen, erklärt der Neurologe. «Kardiomyopathien oder Tendopathien können auftreten, die wir nicht ausblenden wollen, weil sie den Schweregrad der Erkrankung mit ausmachen.»

Es wird ausserdem kein Patentrezept für alle Gliedergürteldystrophien geben, da die Proteinopathien unterschiedliche Endstrecken haben. Die Therapie muss daher für jede der Gliedergürteldystrophien gesondert entwickelt werden. Zu berücksichtigen ist ferner, dass Gene ganz unterschiedlicher Grösse betroffen sind, was für die Wahl des Vektors eine Rolle spielt. Manche Gene sind schlicht zu gross, um in ein Adeno- oder Lentivirus zu passen.

Vom Tiermodell in die frühe klinische Prüfung

Am Beispiel von drei autosomal-rezessiv vererbten Gliedergürteldystrophien demonstrierte Prof. Hagenacker, welche Fortschritte bereits erreicht worden sind – und wie viel Arbeit noch zu leisten bleibt.

Calpainopathie: Gentherapie zumindest im Tiermodell erfolgreich

Basierend auf einem Defizit der in Skelettmuskelzellen exprimierten Protease Calpain-3 beginnt die Calpainopathie zwischen früher Kindheit und Mitte 20. Sie manifestiert sich an der unteren Extremität mit einer Schwäche von Hüftbeugern, Hüftstreckern sowie Adduktoren.

Eine kardiale Beteiligung findet sich üblicherweise nicht – dies ist deshalb relevant, weil sich der CAPN3-Gentransfer per adenoassoziiertem Virus (AAV) im Mausmodell bei systemischer Applikation als kardiotoxisch erwiesen hat. Bei den Tieren liess sich nach selektiver Genexpression im Muskel eine Verbesserung sowohl des histologischen Bildes als auch der Muskelfunktion erreichen. Der Ansatz soll weiterverfolgt werden, ist aber wohl noch nicht reif dafür, am Menschen erprobt zu werden.

Dysferlinopathie: Phase-1-Studie absolviert

Infolge einer Mutation des DYSF-Gens kommt es zu einem Mangel des Reparaturproteins Dysferlin mit langsam fortschreitender, proximaler Schwäche und Atrophie vor allem an der unteren Extremität. Atem- und Herzmuskulatur sind in der Regel nicht betroffen.

Für den AAV-Vektor ist das DYSF-Gen zu gross. Im Tiermodell haben die Forscher daher zu einem Trick gegriffen und das Gen auf zwei AAV aufgeteilt. Nach Injektion werden die beiden Hälfte wieder zusammengefügt und erzeugen eine stabile Genexpression, die zu einer Verbesserung von Histologie und Funktion führt.

«Auch eine Phase-1-Studie beim Menschen gab es bereits. Dabei injizierte man den Doppelvektor auf einer Körperseite in die Streckmuskulatur – die Teilnehmer stellten so praktisch ihre eigene Kontrolle dar», berichtet Prof.
Hagenacker.

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