Warum Jugendliche zu Drogen greifen
Bis zum Alter von 15 Jahren haben 75% der Heranwachsenden in der Schweiz mindestens einmal eine psychoaktive Substanz inklusive Alkoholkonsumiert. Die Jugendlichen nehmen Drogen, um sich zu berauschen; der Konsum hat aber noch andere Aspekte. Prof. Dr. Jochen Kindler, ärztlicher Direktor Kinder und Jugendpsychiatrie Liestal, ging in seinem Vortrag am FomF Pädiatrie Update Refresher auf die Ursachen, die Frühwarnzeichen und das Vorgehen bei Suchtproblemen in der Praxis näher ein.

Drogenkonsum ist verbreitet und beginnt im Jugendalter, in einer Phase, in der die Heranwachsenden besonders vulnerabel sind. «Das hat neurobiologische Gründe», betonte Prof. Kindler. Bei Heranwachsenden ist das Belohnungssystem im Gehirn bereits stark ausgebildet, während der Präfrontalkortex, der das dopaminerge mesolimbische System hemmen kann, in der Entwicklung hinterherhinkt.
Dieses physiologische Ungleichgewicht fördert bei Jugendlichen ein Risikoverhalten, das sich im Drogenkonsum niederschlagen kann. Wie eine Schülerbefragung des Schweizer Gesundheitsobservatoriums (Obsan) 2022 ergab, tranken 23% der befragten Schüler in den letzten 30 Tagen Alkohol mit dem Ziel, sich zu berauschen, 10% konsumierten dazu Cannabis, 4% Medikamente.
Synthetische Cannabinoide haben eine höhere Potenz
In den letzten Jahren zugenommen hat der Gebrauch von E-Zigaretten, Ketamin sowie Nitriten (Poppers), Lachgas/Propangas und Lösungsmitteln. Beim Cannabis ist der steigende THC-Gehalt in den Produkten, insbesondere im Haschisch, ein wachsendes Problem. Sorgen bereiten auch die synthetischen Cannabinoide, die auf CDB-Hanf aufgesprüht werden. «Sie haben eine 20- bis 100-fache Potenz, fluten schneller an und verursachen dadurch deutlich mehr Nebenwirkungen für Jugendliche, die in der Regel nicht wissen, dass diese synthetischen Cannabinoide aufgesprüht worden sind», erklärte Prof. Kindler. Amphetamine (z.B. Ecstasy) sind unter Jugendlichen und jungen Erwachsenen nach wie vor weit verbreitet. Alkohol-, Nikotin- und Kokainkonsum indes haben sich stabilisiert. Opiate spielen bei Schweizer Jugendlichen so gut wie keine Rolle.
«Der Substanzkonsum erfüllt eine Funktion, die über die Euphorisierung hinaus geht», betonte der Kinder- und Jugendpsychiater. Er dient den Heranwachsenden etwa dazu, von den Peers akzeptiert zu werden, Stress und Angst abzubauen oder aus ihrer einer als unerträglich erlebten Realität zu flüchten (Eskapismus). Ein Drogenkonsum geht in der Adoleszenz auch oft mit psychischen Komorbiditäten (z.B. ADHS, dissoziale Entwicklungen) einher.
Neue ICD-Diagnose Internetsucht
Wenn ICD-11 2026 wie geplant in Kraft tritt, wird es in der Kategorie Suchterkrankungen Neuerungen geben. Für die Diagnose Suchterkrankungen müssen dann zwei der folgenden drei Kriterien über 12 Monate erfüllt sein:
- Kontrollverlust über den Substanzkonsum
- physiologische Merkmale (z.B. Toleranz- oder Entzugserscheinungen)
- Substanzkonsum erhält immer mehr Priorität.
Weiterhin muss ein signifikanter Leidensdruck beim Jugendlichen oder dem Umfeld vorhanden sein.
Mit ICD-11 bekommt die Internetsucht erstmals eine eigenständige Diagnose. Klassifiziert ist lediglich das Online-Gaming, nicht aber die anderen Formen der Internetnutzung (z.B. Social-Media-Konsum, Kaufsucht, Glücksspiel, Pornografie). Laut Prof. Kindler ist der Internetgebrauch bei 15 % der Jugendlichen riskant, bei 5 % pathologisch und bei 80 % unproblematisch.
Abklärung ist auch Einstieg in die Therapie
Suchterkrankungen lassen sich anhand von Warnzeichen frühzeitig erkennen. Dazu zählen Leistungseinbussen, Konzentrationsschwächen, Veränderungen von Freizeitinteressen oder das Auffinden von verschiedenen Zubereitungen von Substanzen. «Diese Zeichen treten auch isoliert in der Adoleszenz auf. Liegen jedoch mehrere Kriterien vor, deutet dies auf ein erhöhtes Suchtrisiko hin», erläuterte Prof. Kindler.
Für das Erfassen von Frühwarnzeichen eignet sich der validierte CRAFFT 2.1-Screening-Fragebogen. Besteht ein erhöhtes Suchtrisiko, empfiehlt es sich eine Kurzintervention (z.B. FRAMES-Kurzintervention) durchzuführen. Die Kinder- und Jugendpsychiater gehen sodann in der Abklärung weiter. Neben dem Substanzgebrauch steht bei ihnen bereits auch der Kontext, in dem Drogen konsumiert werden, im Fokus. «Die Diagnostik wird also gleich für den Einstieg in eine Therapie genutzt», so Prof. Kindler.
Multimodale Ansätze für Jugendliche mit Drogenkonsum
Die Behandlung erfolgt multimodal und unter Einbezug von Familie und Schule. Sie besteht aus einer Kombination aus Psycho- und Familientherapie, sozialpädagogischer Arbeit und medizinischen Elementen. Ziel ist, den Konsum zu reduzieren oder zu beenden, Motivation und Selbstwirksamkeit zu fördern, gesunde Alternativen und Lebensperspektiven zu entwickeln sowie psychiatrische Komorbiditäten (z.B. Depression, ADHS, Traumafolgen) zu behandeln. Weitere Therapiepfeiler sind Nachsorge und Rückfallprophylaxe.
Eine Überweisung in eine Fachklinik ist laut Prof. Kindler bei akuter Eigen- oder Fremdgefährdung, schwerer Abhängigkeit oder bei Vorliegen zusätzlicher schwerer psychiatrischer Störungen zwingend notwendig. Je nach Situation kann sie auch bei wiederholtem riskantem oder schädlichem Konsum oder bei Versagen der ambulanten Massnahmen (z. B. fehlende Krankheitseinsicht oder soziale Unterstützung) angezeigt sein.