Beurteilung der Fahreignung nach Schlaganfall oder Epilepsie
Die Frage der Fahreignung beschäftigt Patienten und Ärzte gleichermassen. Nach einem Schlaganfall entscheidet dabei das individuelle Rezidivrisiko. Bei Epilepsie gibt es klare Richtlinien.
Ob ein Patient fahren darf, beeinflusst seine Selbstbestimmung, sein Freiheitsgefühl und seine Lebensqualität erheblich.
Fahreignung ist kein Menschenrecht
Das betont auch PD Dr. Marian Galovic, PhD, Leiter der Epileptologie an der Klinik für Neurologie am Universitätsspital Zürich, in seinem Vortrag auf der SGAIM Frühjahrskonferenz 2024. «Die Fahreignung ist aber kein Menschenrecht», sagt der Neurologe.
Er erklärt, dass einige Faktoren erfüllt sein müssen, damit ein Fahrzeug sicher geführt werden kann.
Man müsse dabei zwischen Fahrfähigkeit – der momentanen Fähigkeit, ein Fahrzeug zu führen – und Fahreignung – der langfristigen Fähigkeit – unterscheiden. Diese Unterscheidung ist wichtig, da Patienten temporär fahrfähig sein können, aber langfristig Risiken bergen, die unvorhersehbar während des Fahrens auftreten können, so der Experte.
Neurologische Erkrankungen nehmen zu
«Die Inzidenz neurologischer Erkrankungen steigt langsam und stetig», berichtet er. «Das liegt auch an der Alterung der Bevölkerung.» Immer mehr Menschen hätten aufgrund dessen mit Behinderungen zu tun.
Der Schlaganfall ist etwa mittlerweile nicht nur die weltweit zweithäufigste Todesursache, sondern auch für die Hälfte der Behinderungen bei neurologischen Erkrankungen verantwortlich – und damit ein häufiger Grund für den Verlust der Fahreignung. Epilepsie, obwohl seltener, betrifft häufig auch junge Menschen und stellt somit eine erhebliche Herausforderung für die Fahreignung dar.
Bewusstseinsstörungen und Fahreignung
Eine entscheidende Rolle bei der Bewertung der Fahreignung nach einem Schlaganfall oder epileptischen Anfall spielen Wahrnehmungs- und Bewusstseinsstörungen.
Zu ihren möglichen Ausprägungen gehört der Neglekt, eine Aufmerksamkeitsstörung, bei der ein Patient eine Seite seiner Umgebung nicht wahrnimmt. «Solche Patienten erfassen nicht alle relevanten Verkehrsinformationen, was zu schweren Unfällen führen kann», so PD Dr. Galovic. «Ein Neglekt sollte also ein No-Go beim Autofahren sein.»
Weitere häufige Einschränkungen betreffen das Gesichtsfeld. Bei der Hemianopsie fällt etwa die Hälfte des Gesichtsfeldes aus. Autofahren können Patienten mit einer Hemianopsie nicht, sagte der Experte. Bei einer Quadrantenanopsie, bei der ein Viertel des Gesichtsfeldes ausfällt, kann die Fahreignung je nach Ausmass der betroffenen Region in bestimmten Situationen erhalten bleiben.
Störungen der Sprache, Motorik oder Kognition
Andere Defizite wie eine Aphasie (Sprachstörung) oder Dysarthrie (Sprechstörung) erlauben in der Regel das Führen eines Fahrzeugs, sofern sie leicht ausgeprägt sind. Bei globalen Aphasien oder schweren kognitiven Defiziten wird die Beurteilung der Fahreignung schwieriger und erfordert oft eine neuropsychologische Testung wie die Fahrverhaltensprobe, bei der ein Verkehrspsychologe die Fahrfähigkeit im Realverkehr überprüft.
Auch bei motorischen und relevanten kognitiven Defiziten kann eine neuropsychologische Testung sinnvoll sein, so PD Dr. Galovic. «Hat ein Patient allerdings eine manifeste Demenz, ist er mit Sicherheit nicht fahrgeeignet.»
Wie lange nicht fahren nach einem Schlaganfall?
Bei der Entscheidung über die Fahreignung nach einem Schlaganfall spielen Faktoren wie die Schwere der Symptome und die Zeit bis zu ihrer vollständigen Rückbildung eine Rolle. Die Dauer der Fahrkarenz sei in jedem Fall individuell zu beurteilen, so der Experte. Denn nach einem Schlaganfall besteht das Risiko, dass sich neue Symptome entwickeln, die die Fahreignung beeinträchtigen.
Als Anhaltspunkt empfiehlt er ein Positionspapier aus Deutschland, das für die medizinische Gruppe 1, die die meisten gängigen PKWs sowie Motorräder einschliesst, bei Patienten mit niedrigem Rezidivrisiko meist eine Pause von einem Monat, und bei erhöhtem Rezidivrisiko eine Pause von drei bis sechs Monaten vorsieht.
Strenger sind die Richtlinien für die medizinische Gruppe 2, die grössere Fahrzeuge wie Busse und LKWs sowie Berufsfahrer umfasst. Diese Gruppe stellt höhere Anforderungen aufgrund des grösseren Schadenspotentials und des erhöhten Risikos für andere Personen.
Praxisbeispiel und Empfehlung
In der Praxis zeigen sich unterschiedliche Herausforderungen bei der Bewertung der Fahreignung.
PD Dr. Galovic präsentiert das Fallbeispiel eines 63-jährigen Mannes mit einer transitorischen ischämischen Attacke (TIA) und begleitender Hemiparese und Hemianopsie, die sich innerhalb einer Stunde komplett zurückbildeten.
Aufgrund der Symptome und der Rückbildungszeit handle es sich um einen High-Risk-TIA, erklärt der Experte. Das Positionspapier sieht in diesem Fall vor, dass Fahrer der medizinischen Gruppe 1 das Fahren drei Monate, und Personen der Gruppe 2 sechs Monate pausieren. Bei höherem Rezidivrisiko empfiehlt sich eine längere Fahrkarenz von sechs Monaten – manche Personen könnten auch nie wieder Autofahren.
Epilepsie und Fahreignung
Auch eine Epilepsie kann die Fahreignung erheblich beeinflussen. Etwa eine von rund 20 Personen in der Schweiz hat im Laufe ihres Lebens einen epileptischen Anfall. Die Prävalenz einer Epilepsie ist jedoch mit rund 1:200 geringer. Die Fahreignung wird bei Epilepsiepatienten individuell bewertet, abhängig von der Art und Häufigkeit der Anfälle sowie deren Kontrolle durch Medikamente.
Für Patienten mit provozierten oder akutsymptomatischen Anfällen, die durch akute medizinische Zustände wie eine Hirnblutung oder einen Hirnschlag verursacht werden, ist das Risiko einer wiederholten Anfallsaktivität nach der Besserung der Symptome üblicherweise geringer. In solchen Fällen wird häufig eine kürzere Wartezeit für die Wiederherstellung der Fahreignung empfohlen, wenn keine weiteren Anfallsaktivitäten vorliegen.
Zur Beurteilung der Fahreignung von Patienten mit epileptischen Anfällen zieht PD Dr. Galovic die Richtlinien der Verkehrskommission der Schweizerischen Epilepsie-Liga heran. Dieses sieht bei Personen der medizinischen Gruppe 1 ohne Epilepsie – etwa nach dem ersten Anfall – eine Fahrpause von drei (bei provozierten Anfällen) bzw. sechs Monaten (bei unprovozierten Anfällen) vor. Personen mit einer Epilepsie (etwa nach dem zweiten unprovozierten Anfall) sollten hingegen ein Jahr lang anfallsfrei sein, bevor sie sich wieder ans Steuer setzen. Ausserdem sollten Patienten, die ihre Anfallsuppressiva absetzen wollen, während des Absetzens sowie drei Monate danach nicht fahren, erinnert der Experte.
Die 2019 erschienenen Richtlinien der Verkehrskommision der Schweizerischen Epilepsie-Liga sind in Form eines Informationsflyers für Betroffene und Angehörige hier online verfügbar.
Was passiert, wenn ein Patient nicht einsichtig ist?
Ist ein Patient uneinsichtig und will nicht auf das Autofahren verzichten, könne dies bei einer unmittelbaren Gefahr für andere Teilnehmer im Strassenverkehr dem Strassenverkehrsamt gemeldet werden, so der Experte.
Im Alltag passiere das jedoch erstaunlich selten. Um keine Meldung abgeben zu müssen, könne der Experte und seine Kollegen den Patienten normalerweise überzeugen, dass eine Fahrpause die bessere Idee sei. «Wir sind zwar auf der Seite unserer Patienten, müssen uns aber zum Schutz der anderen Verkehrsteilnehmer an die Regeln halten», so der Experte.
Weiterlesen