Medical Tribune
4. Juli 2024Stärkung der Barriere als neues therapeutisches Target

Bei MS die Blut-Hirn-Schranke behandeln?

Die Schädigung der Blut-Hirn-Schranke durch Neuroinflammation spielt bei der Multiplen Sklerose (MS) eine zentrale Rolle. Im Frühstadium ermöglicht sie die Infiltration des ZNS durch Immunzellen, später trägt sie zur Atrophie der grauen Substanz und zu kognitiven Einbussen bei. Lässt sich die Barriere erhalten?

Die Blut-Hirn-Schranke zeigt sich bei MS schon früh beeinträchtigt.
Ян Заболотний/stock.adobe.com (generiert mit KI)

Bei Multipler Sklerose (MS) kommt es schon vor den ersten ZNS-Läsionen zu einer Schädigung der Blut-Hirn-Schranke. Das zeigten bildgebende und pathologische Studien, wie in einer aktuellen Übersichtsarbeit in der Zeitschrift Lancet Neurology zu lesen ist (1).

Experimentelle Modelle verdeutlichten zudem, dass die Neuroinflammation durch die Freisetzung proinflammatorischer Chemokine und die Hochregulation von Zelladhäsionsmolekülen (CAM) die Barrierefunktion beeinträchtigt.

Bedeutende Barriere

Die Blut-Hirn-Schranke besteht aus spezialisierten Endothelzellen und sorgt für ein optimales Milieu für die neuronale Aktivität. Sie reguliert den Molekültransport ins und aus dem Gehirn, verhindert das Eindringen von Immunzellen ins ZNS und unterstützt aktiv die neurovaskuläre Kopplung, also die Regulation des Blutflusses zur Förderung neuronaler Aktivität.

Störungen der Blut-Hirn-Schranke können zu neuronaler Dysfunktion, Neurodegeneration und kognitiver Verlangsamung führen.

Ursachen dafür sind unter anderem eine gestörte Regulation des zerebralen Eisenstoffwechsels, die Ansammlung von zytotoxischem Eisen sowie das Eindringen von Erythrozyten, Fibrinogen, Thrombin und Immunglobulinen ins ZNS.

Wie die MS-Entzündung die Blut-Hirn-Schranke schwächt

Die entzündliche Aktivierung führt dabei zu einer Hypertrophie zerebraler Blutgefässe und reduziert die Oberflächen-Expression von Tight-Junction-Molekülen – die Barriere verliert an Integrität. Zelladhäsionsmoleküle und ihre Interaktionspartner gelten daher als attraktive Ziele für neue Therapien.

Verschiedene Faktoren können die Dysfunktion der Blut-Hirn-Schranke begünstigen. Einer davon ist die natürliche Alterung, die durch verminderte Angiogenese, abnehmenden zerebralen Blutfluss und geringere Gefässdichte die Schranke gefährdet. Auch genetische Polymorphismen spielen eine Rolle.

Vitamin D konnte neue Läsionen verhindern

Ebenfalls die Funktion der Blut-Hirn-Schranke beeinflussen kann die Ernährung. Eine faserreiche Diät verstärkt im Tierversuch etwa die Produktion kurzkettiger Fettsäuren durch das Darmmikrobiom, was zur Erhaltung der Barriereintegrität beiträgt.

Bei MS-Patienten fanden sich im Vergleich zu Gesunden zudem niedrigere Konzentrationen kurzkettiger Fettsäuren im Stuhl, eine erhöhte Durchlässigkeit der Darmbarriere und eine verminderte Anzahl von Bakterien im Darmmikrobiom, die kurzkettige Fettsäuren produzieren.

Auch niedrige Vitamin-D-Spiegel sind mit einem erhöhten Risiko für MS und deren Aktivität assoziiert. In einer placebokontrollierten klinischen Studie verringerte die zusätzliche Gabe von Vitamin D die Zahl neuer Läsionen. Dies deutet darauf hin, dass Vitamin D auch für den Erhalt der Blut-Hirn-Schranke wichtig sein könnte.

Weitere Risikofaktoren für die Blut-Hirn-Schranke sind Infektionen mit dem Epstein-Barr-Virus, Hirntraumata in jungen Jahren, Rauchen und Störungen des zirkadianen Rhythmus.

NFL und MBP könnten auf erhöhte Permeabilität hinweisen

Um den Zustand der Blut-Hirn-Schranke zu überprüfen, bieten sich als Biomarker die Neurofilament-Leichtketten (NFL) im Blut an. Ihre Konzentration korreliert mit dem Schweregrad der MS, der Prognose und dem Auftreten von Schüben.

Dass NFL vermehrt im Blut auftauchen, könnte auf eine erhöhte Permeabilität der Schranke hinweisen. Ähnliches gilt für das basische Myelinprotein.

Die bei MS eingesetzten krankheitsmodulierenden Therapien zielen auf die Aktivierung, Proliferation oder Migration von Immunzellen ab.

Alte und neue MS-Therapien stärken die Blut-Hirn-Schranke

Alle Wirkstoffe reduzieren die Bildung neuer Läsionen, teils durch direkte, teils durch indirekte positive Effekte auf die Blut-Hirn-Schranke. Natalizumab etwa hemmt die transendotheliale Migration von Immunzellen direkt.

Glukokortikoide können als lipophile Substanzen gut ins ZNS eindringen und stärken die Blut-Hirn-Schranke durch die Hochregulation von Tight Junctions und die Downregulation von Zelladhäsionsmolekülen. Auch Interferon-beta erhöht die Integrität der Schranke und verringert die transendotheliale Migration von Entzündungszellen.

Tierexperimentelle Studien deuten dabei darauf hin, dass eine intranasale Applikation noch effektiver sein könnte als die subkutane oder intramuskuläre Gabe.

Neue Behandlungen, die die Schranke vermutlich ebenfalls stärken, sind BTK-Inhibitoren und die antiinflammatorisch wirkende kurzkettige Fettsäure Butyrat. Zudem werden Therapien mit Inhibitoren der Histon-Deacetylasen, Sirtuin-1-Agonisten und Stammzelltransplantationen erforscht.