Tourette oder funktionelle Bewegungsstörung?
Hinter unwillkürlichen vokalen und motorischen Phänomenen steckt nicht immer ein Tourette-Syndrom. Mitunter liegt stattdessen eine funktionelle Bewegungsstörung vor. Die Differenzierung kann schwierig sein, ist aber entscheidend für eine adäquate Therapie.
Das Tourette-Syndrom ist eine neurologisch-psychiatrische Erkrankung, die sich durch motorische und vokale Tics äussert. Unter Letzteren versteht man unwillkürliche Laut- und Wortäusserungen, die vom Hüsteln über Quieken und Grunzen bis zum lauten Schreien von Silben oder Wörtern reichen. Meist beginnt die Störung im Kindesalter. Fast immer macht sich die Symptomatik schleichend mit einfachen motorischen Abläufen wie Augenverdrehen, Blinzeln, Kopfrucken oder Grimassieren bemerkbar, schreiben Carolin Fremer und Kolleginnen von der Klinik für Psychiatrie, Sozialpsychiatrie und Psychotherapie der Medizinischen Hochschule Hannover. Komplexe motorische Abläufe, die verschiedene Muskelgruppen oder Körperregionen einbeziehen, sind beim Tourette-Syndrom hingegen deutlich seltener.
Betroffene Kinder und Jugendliche fallen auf – kein Wunder, dass die Medien das Thema in den letzten Jahren aufgegriffen und teilweise eigenwillig interpretiert haben. Einige Kinofilme widmen sich der Erkrankung («Vincent will Meer», «Ein Tick anders»). Es gibt Youtube-Kanäle wie «Gewitter im Kopf», die vorgeblich über das Krankheitsbild informieren möchten und die bei Kindern und Jugendlichen fast Kultstatus haben, berichten die Autorinnen.
Zeitgleich zu dieser Entwicklung stellen sich in spezialisierten Zentren immer mehr junge Menschen vor, die funktionelle Bewegungsstörungen mit Tic- und Tourette-ähnlichen Symptomen aufweisen. Die Differenzierung zwischen einem «echten» Tourette-Syndrom und der funktionellen Störung mit entsprechenden unwillkürlichen Abläufen kann schwierig sein, ist aber entscheidend für eine adäquate Therapie.
Tourette oder nicht Tourette? | ||
Tourette-Syndrom | Funktionelle Bewegungsstörung mit
Tic- und Tourette-ähnlicher Symptomatik | |
Beginn der
Symptomatik | meist zwischen 6. und 8. Lebensjahr, Jungen drei- bis viermal häufiger betroffen 99 % der Fälle vor dem 15. Geburtstag langsam einschleichender Beginn zuerst einfache motorische Tics, nach zwei bis drei Jahren Laut- und Wortäusserungen | Beginn überwiegend im Jugend- und frühen Erwachsenenalter häufiger bei Mädchen und Frauen plötzlicher, abrupter Beginn von Anfang an komplexe Bewegungen, oft laute Vokalisationen und ganze Sätze |
Symptomverlauf | Fluktuationen der Tics in Art, Häufigkeit und Anzahl Maximum zwischen dem 10. und 12. Lebensjahr | oft kontinuierliche Verschlechterung mit Zunahme von Komplexität, Häufigkeit, Symptomzahl grosse Symptomvielfalt, Symptome können sich täglich ändern |
Phänomenologie | einfache motorische Tics, meist mit Augen, Gesicht, Kopf bei schweren Formen (komplexere) Tics in anderen Körperbereichen vokale Tics: Räuspern, Hüsteln, Fiepen, einzelne Silben | komplexe Bewegungen von Oberkörper und Armen, selten im Gesicht verkrampfende, verdrehende Bewegungen Vokalisationen: Vielzahl von Wörtern und ganzen Sätzen, oft mit vulgärem Inhalt |
Koprophänomene | selten («fuck», «shit», «Scheisse») Versuch, die Wörter zu unterdrücken | häufig: Ausrufen von Schimpfwörtern, sozial unpassenden Begriffen, Beleidigungen oft während der Untersuchungssituation |
bizarre und sozial
unpassende Handlungen | selten: unpassende Ausrufe in der Regel keine komplexen Handlungen | häufig: Hinunterwerfen von Essen oder Gegenständen, Auskippen von Getränken, Stossen anderer Personen |
Vorgefühl und
Unterdrückbarkeit | sehr kurzes Vorgefühl vor Auftreten des Tics, manchmal mit Unterdrückbarkeit | Betroffene berichten meist nicht von einem Vorgefühl willentliche Unterdrückbarkeit: völlig fehlend bis stundenlang |
situative
Einflussfaktoren | Zunahme der Tics bei Stress und Emotionen Abnahme bei Entspannung und Konzentration | starke Beeinflussung der Symptomatik durch Umgebungsfaktoren Verschlechterung in unangenehmen Situationen und in Anwesenheit anderer |
Psychotherapie statt Medikamente
Es gibt verschiedene Merkmale, die bei der Abgrenzung helfen (s. Tabelle). So beginnt das Gilles-de-la-Tourette-Syndrom fast immer langsam einschleichend im Kindesalter, meist zwischen dem sechsten und achten Lebensjahr. Die funktionelle Bewegungsstörung mit Tic- und Tourette-ähnlicher Symptomatik dagegen startet abrupt und tritt überwiegend bei Jugendlichen und jungen Erwachsenen auf. Auch die Art und Ausprägung der Krankheitszeichen unterscheidet sich, ebenso die Faktoren, die die Tics verschlimmern oder abschwächen können.
Beim Tourette-Syndrom stehen Psychoedukation und Verhaltenstherapie mit dem Habit Reversal Training im Vordergrund sowie eine Medikation mit Antipsychotika wie Aripiprazol. Bei den funktionellen Bewegungsstörungen mit Tic- und Tourette-ähnlichen Symptomen empfiehlt sich eine Psychotherapie, bei Bedarf flankiert von Physio- und Ergotherapie. Eine wirksame medikamentöse Behandlung der funktionellen Störung ist nicht bekannt.
Fremer C et al. DNP 2021; 22: 48–53.