Mittelohrentzündung bei Kindern nicht übertherapieren
Die akute Otitis media betrifft vor allem Vorschulkinder, meist als Begleiterscheinung einer Infektion der oberen Atemwege. Die Diagnose erfolgt per Otoskopie, die Behandlung in erster Linie mit Analgetika. Antibiotika sind nur in bestimmten Situationen erforderlich.
Einer Otitis media geht meist ein Infekt der oberen Atemwege voraus, der das Mikrobiom in Nase und Rachen stört. Das ebnet pathogenen Bakterien den Weg, sodass diese über die Eustachi-Röhre ins Mittelohr gelangen und dort eine Infektion auslösen können, schreiben Dr. Roderick Venekamp von der Universität Utrecht und Kollegen. Junge Kinder sind besonders anfällig für akute Mittelohrentzündungen, da einerseits ihre Tuba auditiva kürzer und weiter ist als bei älteren und andererseits die Funktionen des kindlichen Immunsystems noch nicht ausgereift sind. Bis zum dritten Geburtstag erleidet die Hälfte der Kinder im Durchschnitt drei Mittelohrentzündungen.
Ohrenschmerzen sind das markanteste Symptom bei akuter Otitis media. Bei 15–20 % der Kinder kommt es zu einer neu auftretenden Otorrhö. Insbesondere bei Kleinkindern können die Symptome am Ohr selbst allerdings nur leicht ausgeprägt sein oder in seltenen Fällen ganz fehlen. Manche Kinder haben Fieber oder fallen durch Unruhe oder Schlafstörungen auf.
Beweglichkeit des Trommelfells vermindert
Ohrenschmerzen und Greifen nach dem Ohr bei jungen Kindern sollten den Verdacht auf eine Mittelohrentzündung lenken. Lässt sich bei der Otoskopie ein Erguss im Mittelohr feststellen, bestätigt dies die Verdachtsdiagnose. Ein solcher Paukenerguss kann sich bei der Otoskopie als Vorwölbung des (geröteten) Trommelfells oder als Otorrhö bemerkbar machen. Im Rahmen einer pneumatischen Otoskopie (s. Kasten) fällt bei Paukenerguss eine eingeschränkte Beweglichkeit des Trommelfells auf.
Pneumatische Otoskopie
Die Verdachtsdiagnose Otitis media sollte möglichst durch eine pneumatische Otoskopie bestätigt werden, empfehlen die niederländischen Kollegen. Dabei wird Luft in den äusseren Gehörgang gepumpt und die Beweglichkeit des Trommelfells visuell beurteilt. Eine deutliche Einschränkung spricht für einen Paukenerguss. Die Bestätigung der Verdachtsdiagnose Otitis media mithilfe der pneumatischen Otoskopie kann Überdiagnosen und unnötige Antibiotikaverordnungen reduzieren. Bei jüngeren Kindern gelingt diese Untersuchung jedoch nicht immer.
Bei ansonsten gesunden Kindern zeigt die Infektion im Allgemeinen eine hohe Selbstheilungsrate, zumindest in Ländern mit hohem Einkommen. 90 % der betroffenen Kinder haben innerhalb von sieben bis acht Tagen gar keine Ohrenschmerzen mehr. Bei 80 % der kleinen Patienten bilden sich die schlimmsten Symptome auch ohne Antibiotika innerhalb von drei Tagen zurück. Die Kollegen aus den Niederlanden empfehlen, folgendermassen vorzugehen:
- Beratung: Die Eltern müssen wissen, dass bei Ohrenschmerzen und Symptomen einer Infektion der oberen Atemwege bei einem ansonsten gesunden Kind meist eine Mittelohrentzündung vorliegt, die mit schmerzlindernden Medikamenten behandelt werden kann.
- Schmerzlinderung: Allen Patienten kann Paracetamol oder Ibuprofen in altersgemässer Dosierung angeboten werden. In manchen Ländern werden analgetische Ohrentropfen eingesetzt, zu deren Wirksamkeit es aber kaum Daten gibt.
- Wiedervorstellung: Wenn sich die Symptome verschlechtern oder sich innerhalb von drei Tagen nicht bessern, sollen sich die Eltern erneut an den Arzt wenden.
In bestimmten Situationen empfiehlt sich die umgehende Gabe oraler Antibiotika. Die Autoren nennen folgende Indikationen für eine Antibiotikatherapie:
- systemische Symptomatik
- schwere persistierende Erkrankung
- hohes Risiko für Komplikationen (Alter < 6 Monate, Begleiterkrankungen wie Immundefekte, Down-Syndrom oder kraniofaziale Fehlbildungen)
Akute Otorrhö als Indikation für Antibiotika
Darüber hinaus kann eine sofortige Antibiotikagabe erwogen werden bei Kindern unter zwei Jahren, die eine beidseitige Otitis media haben, sowie bei Kindern mit akuter Otorrhö aufgrund einer spontanen Trommelfellruptur. In solchen Situationen führen Antibiotika nachweislich zu einer rascheren Rückbildung von Ohrenschmerzen und Fieber.
In den meisten europäischen Ländern gilt Amoxicillin für Kinder mit akuter Mittelohrentzündung als Antibiotikum erster Wahl und wird über fünf bis zehn Tage verabreicht. Wenn die initiale Behandlung innerhalb von 48–72 h nicht erfolgreich ist, soll auf ein Antibiotikum mit breiterem Spektrum gewechselt werden, beispielsweise auf Amoxicillin-Clavulansäure oral oder intravenös. Für Kinder mit Penicillinallergie empfiehlt sich europäischen Leitlinien zufolge orales Clarithromycin oder Trimethoprim-Sulfamethoxazol.
Venekamp RP et al. BMJ 2020; 371: m4238; doi: 10.1136/bmj.m4238