Im Graubereich ist es am schwierigsten
Was können und sollen Kinder- und Hausärzte bei einem Verdacht auf eine Kindswohlgefährdung tun? Am Forum für medizinische Fortbildung Pädiatrie Update Refresher zeigte Dr. Georg Staubli, Chefarzt Notfallstation und Leiter der Kinderschutzgruppe am Kinderspital Zürich, Optionen auf.
Der Referent empfahl, die Emotionen aussen vor zu lassen und den Fokus darauf zu richten, was das Kind und die Familie brauchen. «Was gut ist und was nicht, sollte auch nie allein entschieden werden, sondern mit allen Beteiligten und unter Berücksichtigung der verschiedenen Perspektiven», erklärte Dr. Staubli. Auch müssen alle Befunde stets gut dokumentiert werden.
Einvernehmliche Lösungen anstreben
Im Kinderschutz ist zu unterscheiden zwischen Vernachlässigung, körperlichem und psychischem Missbrauch, dem seltenen Münchhausen-Stellvertreter-Syndrom und dem sexuellen Missbrauch, der primär in den Bereich der Kinder- und Jugendgynäkologen fällt.
In 80 % der Fälle kann mit den Eltern eine einvernehmliche Lösung gefunden werden, nur in 20 % muss man die Kinder- und Erwachsenenschutzbehörde (KESB) oder die Strafverfolgungsbehörde einschalten. Wie eine einvernehmliche Lösung aussehen kann, präsentierte der Referent am Beispiel eines vier Monate alten Säuglings, den die Mutter ins Kinderspital brachte, weil er nicht an Gewicht zulegte. «Das Kind war deutlich unterernährt und lag weit unter der für sein Alter entsprechenden Perzentile», sagte Dr. Staubli. Die Mutter erzählte schliesslich, sie würde ihr Kind mit Stutenmilch füttern.
«Als Kinderschützer müssten wir eingreifen, wenn die Mutter das Kind hätte hungern lassen», erläuterte Dr. Staubli. Das sei aber bei dem vorgestellten Säugling nicht der Fall gewesen. Deshalb wurde eine einvernehmliche Lösung angestrebt. Die Mutter wurde angewiesen, das Kind nur noch mit einer Säuglingsmilch zu füttern. «Mit dieser Empfehlung wurde sie aber nicht einfach so wieder entlassen. Denn es braucht immer auch eine Kontrolle, ob die Vereinbarung auch eingehalten wird», erklärte der Experte. Ist dies nicht der Fall, muss man die KESB manchmal eben doch noch eingeschalten.
Im Fallbeispiel baten die Pädiater aus dem Kinderspital die niedergelassene Kinderärztin des Säuglings, das Gewicht alternierend mit Väter-Mutter-Beratung wöchentlich zu kontrollieren, und mit dem Kinderspital Kontakt aufzunehmen, sollte die Mutter nicht mit ihr zusammenarbeiten und das Kind wieder an Gewicht verlieren. Zudem erfolgte ein Aufgebot für einen ambulanten Termin im Verlauf zur Kontrolle der Blutwerte im Kinderspital.
Karies als Hinweis auf Vernachlässigung
«Schwierig sind vor allem die Fälle im Graubereich, zwischen gutem, adäquatem und klar schädlichem elterlichen Verhalten», sagte der Referent. Hier gilt es, besonders gut auf Anzeichen, die auf eine Kindsvernachlässigung hindeuten, zu achten. Ein solcher Hinweis können etwa die Zähne sein. «Eine frühkindliche Karies und unbehandelte Zahnverletzungen kommen bei misshandelten Kindern etwa achtmal häufiger vor als bei Kindern, die in guten Verhältnissen aufwachsen», so Dr. Staubli. Sie führen zu Infektionen, Abszessen, Schmerzen, Schlafproblemen und Zahnextraktionen bis hin zu sozialen Problemen und Hänseleien in der Schule. Betroffen sind vor allem Kinder aus niedrigem sozioökonomischem Kreisen, die regelmässig mit dem Schoppen einschlafen, sowie solche, die mehr als sieben Mal pro Tag gestillt werden. «Sorgen die Eltern nicht für eine regelmässige Zahnpflege der Kinder, gehen sie nicht mit ihnen zum Zahnarzt und unternehmen sie auch nichts, wenn die Kinder Schmerzen wegen einer Zahninfektion bekommen, sind dies oft Anzeichen, dass sich hinter den unschönen Zähnen mehr verbergen könnte», erläuterte Dr. Staubli.
Oft braucht es mehrere Gespräche
Ein einvernehmlicher Weg ist häufig auch bei einer Kindsmisshandlung möglich und sollte immer erwogen werden. «Denn ohne konkrete Anhaltspunkte, nur aufgrund einer Vermutung, kann die KESB meistens nichts unternehmen», erklärte Dr. Staubli.
Besteht ein Verdacht, müssen zuerst medizinische Gründe für die Befunde ausgeschlossen, Unangenehmes angesprochen und nachgefragt werden, etwa wie ein Hämatom an der Stirn entstanden sei. «Oft braucht es mehrere Gespräche, bis erzählt wird, was zu Hause tatsächlich vor sich geht», so der Experte. Beim sieben Monate alten Säugling, der wegen dauerndem Erbrechen von der Mutter immer wieder ins Kinderspital gebracht wurde, kam die Wahrheit erst bei der dritten Konsultation auf dem Tisch. Die Mutter erzählte, die Tagesmutter hätte tags zuvor das Kind geschüttelt, weil es bei ihr erbrochen hatte. Wegen eines Schütteltraumas erfolgte dann eine stationäre Aufnahme des Säuglings und die Einreichung einer Strafanzeige.
«Nicht nur die Eltern, auch die Kinder erzählen häufig nicht gleich, was tatsächlich geschehen ist», führte Dr. Staubli weiter aus. So erklärte etwa ein fünfjähriges Kind seine Ohr-Verletzung zunächst mit einem lapidaren Treppensturz. Als es zwei Jahre später erneut mit Verletzungen ins Kinderspital kam, gestand es, dass es – wie auch beim ersten Mal – vom Vater geschlagen wurde.