Medical Tribune
12. Okt. 2023Verletzungen in Beckenboden & Co

«Eine Rektusdiastase fällt oft erst Jahre nach der Geburt auf»

Bilden sich nach der Schwangerschaft nicht alle Anpassungen im Bewegungsapparat zurück, kann dies Betroffene auch noch Jahre nach der Geburt belasten. Ein häufiges Problem ist die Rektusdiastase. Sie kann tiefgreifende Auswirkungen auf Haltung, Bewegungsabläufe und Organfunktionen haben und sollte schnellstmöglich behandelt werden.

Ein dicker Bauch noch Jahre nach der Geburt sollte zu denken geben.
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Ein dicker Bauch noch Jahre nach der Geburt sollte zu denken geben.

In der Schwangerschaft nimmt der Körper tiefgreifende muskuloskelettale Anpassungen vor, berichtet Prof. Dr. Barbara Köhler, Leiterin der Praxis für Beckenbodengesundheit in Zürich.

Bei manchen Frauen persistiert die Rektusdiastase

Am deutlichsten wird das am Bauch. «Dieser muss in der Schwangerschaft extrem anwachsen. Um das zu erlauben, müssen die rechten und linken geraden Bauchmuskeln maximal auseinanderweichen» so die Expertin. Ebenfalls nachgeben müssen die medianen Faszienschichten, aus denen die  Bindegewebsscheide zwischen den Bauchmuskeln besteht. Die sich dann ergebende Lücke zwischen den Bauchmuskeln wird als Rektusdiastase bezeichnet.

Sowohl die Muskulatur als auch die bindegewebige Platte bilden sich bei vielen Frauen nach der Geburt innerhalb der ersten Wochen zurück. Bei manchen Frauen persistiert die Rektusdiastase aber über Monate oder Jahre.

«Ich sehe aus, als wäre ich wieder schwanger»

Das liegt nicht immer an der Muskulatur: Oft haben die Muskeln sogar recht schnell ihre ursprüngliche Position wieder eingenommen. Wie gut die Wiederherstellung der Faszienplatte funktioniert, ist aber unter anderem vom Bindegewebstyp abhängig.

«Hat man ein sehr straffes Bindegewebe, dann kann es dort während der Schwangerschaft zu Einrissen kommen. Sehr weiches Bindegewebe erleidet zwar meist keine Verletzungen, kann aber stark ausleiern. Dann ist auch die Rückbildung deutlich erschwert», so Prof. Köhler.

Bei manchen Frauen wird die Rektusdiastase durch den bleibenden «Babybauch» auffällig. «Mit einer Rektusdiastase ist der Bauch oft noch lange nach der Geburt noch vorgewölbt», so Prof. Köhler. Insbesondere fällt das auf, wenn Betroffene gerade gegessen und getrunken haben. «Typischerweise befindet sich genau dort dann der Fettansatz – denn Fettpolster setzen sich vor allem dort an, wo die Muskulatur inaktiv ist, und keine Bewegung passiert.»

Haltungsbeschwerden durch fehlende Stützfunktion

Besteht die Rektusdiastase über längere Zeit, hat das massive Auswirkungen auf den Halteapparat, so die Expertin. Der Bauchmuskulatur kommt eine wichtige Haltungsfunktion zu, die der Bauch mit einer Rektusdiastase aufgrund der fehlenden Muskeln in der Körpermitte nicht mehr erfüllen kann. Die Folge sind Haltungsprobleme, allen voran eine Lordose der Lendenwirbelsäule (Hohlkreuz). Bei einigen Frauen kommt es aufgrund der Haltungsprobleme zu Nacken- und Lumbalbeschwerden

Durch die fehlende Stützfunktion des Bauches werden ausserdem die Bandscheiben ungleichmässig belastet. «Kommt dann auch noch unruhiger Schlaf während der Babyzeit dazu, können diese sich nicht gut während der Nachtruhe regenerieren», warnt die Expertin. Das führt mittelfristig zu Abnützungen der Bandscheiben und der Wirbelgelenke.

Und auch Nervenkompressionssstörungen (Thoracic Outlet Syndrom, LWS-Syndrom) können auftreten. Diese entstehen durch das Abklemmen von Nervengeflechten durch fehlhaltungsbedingt veränderte Anspannung von Muskeln im Brust- und Halsbereich, sowie der Lendenwirbelsäule.

Durch die Lordose kann sich aber auch die Position der Organe im Bauchraum verändern. So hat die Harnblase bei einem vorgekippten Becken nicht den korrekten Aufsatz auf dem Beckenboden, sondern liegt vorne auf dem Schambein. Dadurch wird der Beckenboden seltener in Schwingung versetzt, und verliert langfristig an Aktivität. Durch die schwächere Unterstützung des Bindegewebes werden ausserdem auch Hernien begünstigt.

«Regelmässig Bauch und Beckenboden überprüfen oder überprüfen lassen!»

Hellhörig werden sollten Frauen, die über acht Wochen nach der Geburt hinaus immer noch gelegentlich oder häufig Harn oder Stuhl verlieren, so die Expertin. «Bei den regelmässigen Kontrollen durch den Gynäkologen trauen sich viele Frauen nicht, über ihre Inkontinenz zu reden.» Sie empfiehlt daher, Probleme aktiv anzusprechen und nicht zu warten, bis man gefragt wird.

Sinnvoll ist es ausserdem, den Bauch regelmässig selbst auf eine eventuelle Rektusdiastase zu untersuchen. «Dazu stellt man in Rückenlage die Beine an und hebt Kopf und Schultern (siehe Abb. 1). Auf Nabelhöhe und jeweils 1 und 2 fingerbreit davon entfernt tastet man den Abstand zwischen den beiden Bauchmuskelhälften. Erst wenn nur noch die Fingerspitzen in diesen Spalt hinein passen, sollte man das Training beenden. Dann erst ist die Rektusdiastase wieder geschlossen.» Zudem sollte die Frau auf eventuell schmerzhafte Stellen achten, denn sie können ein Hinweis auf einen kleinen Einriss sein, der mit dem Arzt besprochen werden sollte.

Selbstkontrolle der Rektusdiastase
Barbara Köhler

Abb. 1 Selbstkontrolle der Rektusdiastase

Darüber hinaus rät Prof. Köhler, bei den Kontrolluntersuchungen nach der Geburt die Ansteuerbarkeit des Beckenbodens zu testen. Auch Geburtsverletzungen – etwa eine angerissene oder zerrissene Muskulatur – werden ihrer Erfahrung nach bisweilen übersehen.

Veraltete Übungen schaden mehr als sie nützen

Bei der Rektusdiastase ist üblicherweise die Physiotherapie die erste Wahl. Diese sollte jedoch gut geplant werden. Die Frau sollte ausserdem vorab untersucht werden, empfiehlt Prof. Köhler.

Zudem kursieren im Internet und in Büchern veraltete Übungen, warnt die Expertin. «Früher hat man diagonale Übungen empfohlen, um die schräge Bauchmuskulatur zu kräftigen. Aktuelle Forschungsarbeiten zeigen aber, dass das die Rektusdiastase erst recht auseinanderzieht.»

Seit einigen Jahren tendiert man hingegen stattdessen eher dazu, die Rektusdiastase mit den Händen zusammenzuhalten oder zu tapen, und dann die gerade Bauchmuskulatur zu trainieren (siehe Abb. 2).

Angepasstes Bauchmuskeltraining.
Barbara Köhler

Abb. 2 Angepasstes Bauchmuskeltraining.

Im Alltag können ausserdem elastische Stützmieder oder Tapes Frauen mit kleinen Kindern unterstützen. Sie entlasten die Muskulatur an Bauch und Rücken. Zusätzlich sollten die Betroffenen allerdings unbedingt trainieren, damit die Muskeln durch die Stützhilfe nicht erschlaffen.

Um die Beckenbodenmuskulatur gezielt zu unterstützen, empfiehlt Prof. Köhler neben klassischem Kegel-Training auch neue App-basierte Trainer. Diese bestehen aus einer vaginal eingeführten Trainingseinheit und einer Handy-App z.B. Perifit oder Elvie. Diese bieten einen Überblick über die Funktionsfähigkeit des Beckenbodens, und geben während der Übungen teils spielerische Rückmeldung über deren richtige Durchführung. Mit anderen, nichtinvasiven neuen Trainingsgeräten lässt sich der Beckenboden zudem angezogen auf dem Küchenstuhl trainieren (z. B. Acticore).

Wann operiert werden muss

Ist die Rektusdiastase stark ausgeprägt, oder verläuft die Physiotherapie nicht wie gewünscht, kann es sein, dass chirurgisch nachgeholfen werden muss. «Schmerzen bei Übungen sind etwa ein Signal dafür, dass etwas nicht funktioniert» sagt Prof. Köhler. Ein Beispiel sind Verletzungen oder Überdehnungen des Bindegewebes. «Muskeln brauchen immer Ansatzpunkte am Bindegewebe, um richtig ziehen zu können. Wenn das Bindegewebe noch immer geschwächt ist, funktioniert das nicht richtig.»

Steckt ein Bindegewebsproblem hinter der Rektusdiastase, kann eine Operation nötig sein. Im Zuge dessen wird die Rektusdiastase vernäht, und gegebenenfalls eine Bauchdeckenstraffung vorgenommen.

«Erfreulich ist, dass immer mehr Physiotherapeutinnen sich auf das Thema Beckenboden spezialisieren» resümiert Prof. Köhler. In Österreich, Deutschland und der Schweiz findet man über die Berufsverbände Physiotherapie entsprechende Therapeutinnenlisten.