Medical Tribune
9. Juni 2023Das TOS treibt Nerven, Arterien und Venen in die Enge

Thoracic-Outlet-Syndrom: Fingerkribbeln, Schmerzen und Verspannungen

Hinter einem bunten neurologisch-angiologischen Beschwerdebild stecken mitunter anatomische Engpässe im Bereich von Schulter und Schlüsselbein. Ist die Diagnose Thoracic-Outlet-Syndrom gestellt, sorgt gezielte Physiotherapie in den meisten Fällen rasch für Linderung.

Beim Thoracic-Outlet-Syndrom kommt es zu Verklemmungen von Nerven oder Gefässen im Scalenus-Dreieck, Pectoralis-minor-Raum oder kostoklavikulären Raum.
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Beim Thoracic-Outlet-Syndrom kommt es zu Verklemmungen von Nerven oder Gefässen im Scalenus-Dreieck, Pectoralis-minor-Raum oder kostoklavikulären Raum.

«Es dauert in der Regel mindestens vier Jahre und braucht mindestens sechs verschiedene Fachärzte, um an die korrekte Diagnose Thoracic-Outlet-Syndrom (TOS) zu kommen», berichtet Dr. ­Katja ­Mühlberg von der Inneren Medizin des Uniklinikums Leipzig (1).

Neurogenes oder venöses Thoracic-Outlet-Syndrom?

Grund ist unter anderem die grosse Bandbreite der Symptome. Das Thoracic-Outlet-Syndrom fasst verschiedene Kompressionssyndrome der oberen Thoraxapertur zusammen. Mit 70 bis 80 Prozent am häufigsten betroffen sind nervale Strukturen, gefolgt von venösen (3–7%) und arteriellen (3–5%). Die übrigen sind Mischformen, was die Diagnose noch zusätzlich erschweren kann.

Schlafen mit Thoracic-Outlet-Syndrom

Oft liest man, dass spezielle orthopädische Kissen beim Thoracic-Outlet-Syndrom Entlastung bringen sollen. Empfehlungen und Erfahrungsberichte von Experten weisen jedoch eher darauf hin, dass Patienten mit Kompressionssyndromen eine möglichst flache Schlafposition einnehmen sollen, um den Rücken zu entlasten. Am besten ist es also, ganz ohne Kissen, und auf dem Rücken zu schlafen. Vor allem für Bauchschläfer benötigt das zu Beginn einige Tage der Gewöhnung.

Patienten mit Thoracic-Outlet-Syndrom sollten ausserdem nicht in Positionen schlafen, in denen die Arme über dem Kopf lagern (2).

Sind nervale Strukturen beteiligt, treten neben Schmerzen typischerweise Par- und Dysästhesien sowie Lähmungserscheinungen auf. Bei arterieller Kompression kommt es zu Pulsverlust, Kältegefühl, Raynaud-Phänomenen, Kraftverlust und Seitendifferenz bei der Blutdruckmessung. Haben die Gefässe bereits Schaden genommen, drohen periphere Embolisationen und Ulzera. Zyanosen sprechen für eine venöse Beteiligung, bei der es zu Kälteempfindungen in den Händen, Schweregefühl, Schwellungen und im schlimmsten Fall zur Schulter-Armvenenthrombose kommt.

Ursachen Rundrücken und falsches Tragen

Getriggert wird ein Thoracic-Outlet-Syndrom beispielsweise durch das Tragen einer schweren Tasche mit herunterhängendem Arm. Dabei zieht es das Schlüsselbein in Richtung der ersten Rippe. So werden die A. subclavia und Teile des Plexus ­brachialis wie durch eine Schere eingeklemmt. Nicht nur im kosto­klavikulären Raum kann es dabei eng werden, sondern auch im Scalenus-Dreieck, Pectoralis-minor-Raum und in seltenen Fällen direkt am Ansatz der Halsrippe (wenn eine solche vorhanden ist).

Aber auch Fehlhaltungen, bei denen der Oberkörper und die Schultern nach vorne unten fallen, können zur Kompression entsprechender Strukturen führen.

Fehlhaltungen können zu Kompressionen führen

Ein Thoracic-Outlet-Syndrom tritt meist zwischen dem 30. und 40. Lebensjahr auf, wobei Frauen insgesamt etwas anfälliger sind. In der Anamnese sollte man nach stattgehabten Schleudertraumata und Klavikulafrakturen fragen, riet Dr. Mühlberg. Darüber hinaus gelten Sportarten wie Schwimmen, Rudern, Bodybuilding und Gewichtheben aufgrund des starken Muskelaufbaus im Oberarm- und Schulterbereich als Thoracic-Outlet-Syndrom-fördernd. «Auch die Berufsanamnese gehört bei der Diagnostik immer dazu», betont die Expertin. Menschen, die über Kopf arbeiten müssen, aber auch manche Musiker (z.B. Geiger) sind gefährdet.

Der typische Patient klagt über Schmerzen im Bereich des Schulterhalsdreiecks und auf der Radialis­seite des Unterarms. Meist stehen die Symptome in Zusammenhang mit bestimmten Positionen, Armbewegungen oder Belastungen. Aufschlussreich ist nicht zuletzt das Erscheinungsbild des Gegenübers (Haltung, Bewegungsfreiheit, Muskulatur).

Zudem gibt es typische geschlechtsspezifische Konstitutionen: Bei den Frauen trifft es eher die sehr schlanken Typen, bei den Männern die athletisch-muskulösen. Zu achten ist auch auf die Armumfänge. «Die sollten Sie tatsächlich mit dem Metermass messen», rät die Referentin. Denn manchmal seien auf den ersten Blick kaum eindrückliche Unterschiede wegweisend für die Diagnose.

Bildgebung kann Auffälligkeiten ergeben

In der Bildgebung spielt der Röntgen-Thorax eine entscheidende Rolle, vor allem wenn es um die Halsrippe geht. Anhand einer überschiessenden Kallusbildung oder Pseud­arthrose lassen sich stattgehab­te Traumata bestätigen.

Arterielle und venöse Schulter-Arm-Gefässe sind gut sonografisch zu beurteilen, jeweils in Ruhe und in Provokationshaltung (siehe Kasten). Achten sollte man dabei auf Veränderungen im Flussprofil sowie Stenosierungen, aneurysmatische Reaktionen und thrombotische Wandauflagerungen.

Gefässcheck per Ultraschall

Durch gezielte Positionswechsel von Arm und Schultern eine Scalenus-, Pectoralis-, oder Kostoklavikular-Enge provozieren. Dazu zählen der ADSON-Test in maximaler Inspiration, der WRIGHT- und der EDEN-Test. In Provokation lassen sich dann per Duplexsono die Gefässe in diesem Bereich schallen. Für die exakte Ausführung der Tests ist es hilfreich, eine zweite Person hinzuzuziehen.

Allerdings ist nicht jede provozierte Flussveränderung pathologisch, warnt Dr. Mühlberg. Entscheidend für die Beurteilung sei die Zusammenschau von objektivem Gefässbefund, Symptomatik und klinischer Reaktion während der Tests (z.B. Kribbeln, Kältegefühl, livide Verfärbung). Immer gehört auch eine neurologische Diagnostik (EMG/ENG) dazu, um z.B. ein isoliertes Karpaltunnel- oder Sulcus-ulnaris-Syndrom auszuschliessen.

Manchmal liegt Ersteres aber auch gleichzeitig zum Thoracic-Outlet-Syndrom vor («double crush syndrome»). Die erweiterte Bildgebung umfasst MRT (u.a. zum Ausschluss von Tumoren) sowie spezielle angio­grafische Verfahren – Letztere sind nach Möglichkeit im Sitzen durchzuführen.

Zur konservativen Therapie gibt es nur Erfahrungswerte

Therapeutisch lautet die Devise: konservativ vor operativ. Dies gilt vor allem bei nervaler Kompression. Patienten profitieren massgeblich von gezielter Physiotherapie, die auch Körperhaltung, Schlafposition und Arbeitsplatzgestaltung ins Visier nimmt. Gegen die Schmerzen helfen NSAR, Muskelrelaxanzien, die transkutane elektrische Nervenstimulation (TENS) und lokale Infiltrationstherapie. Allerdings gibt es keine evidenzbasierten Daten zu Dauer, Intensität und Frequenz der konservativen Massnahmen. «Man weiss aber, dass es funktioniert», so die Expertin.

Bleibt eine Besserung der Beschwerden aus oder bestehen bzw. drohen vaskuläre Strukturveränderungen, kann man einen operativen Eingriff erwägen. Venöse Thrombosen gelten nur als relative Indikation, da man sie mit NOAK gut in den Griff bekommt. Für die OP sollte ein Zentrum mit hoher Expertise gewählt werden. «Wir erleben manchmal in der Nachsorge unserer Patienten, dass Rippenstümpfe belassen wurden, weil die Rippen­resektion doch nicht so banal ist, wie man glaubt. Rippen können regenerieren und dann wieder zu ähnlichen Symptomen führen.»

Zu den Risiken einer OP zählen u.a. vaskuläre und Plexusläsionen, Lymphödeme, Horner-Syndrom und Scapula alata. Das OP-Ergebnis ist in 50–93 Prozent der Fälle gut bis zufriedenstellend. Allerdings muss sich jeder zweite Patient einem Rezidiv­eingriff unterziehen.