Nur gesunde oder nur ungesunde Nahrungsmittel gibt es nicht
Schadet der Konsum von zu viel gesättigten Fettsäuren, Cholesterin, Zucker und Salz der Gesundheit oder nicht? Am Jahreskongress des Kollegiums für Hausarztmedizin (KHM) präsentierte Dr. Reinhard Imoberdorf, Chefarzt der Klinik Innere Medizin am Kantonsspital in Winterthur, Fakten und räumte dabei gleich mit mehreren Ammenmärchen über die gesunde Ernährung auf.
Gesättigte Fettsäuren verursachen koronare Herzkrankheiten. Diese Hypothese führte vor Jahrzehnten zu der Empfehlung, die Menge dieser aufgenommenen Fette dürfe nicht mehr als 10 % der gesamten Energiezufuhr betragen. «Sie hält sich bis heute, obwohl sie bereits 1957 widerlegt worden ist», betonte Dr. Imoberdorf.
Damals kam eine Studie1 zum Schluss, die Daten seien einseitig zitiert worden. Auch spätere Arbeiten bestätigten: Die Fett-Hypothese ist falsch. Die Framingham-Studie2 kam 1991 und die PURE-Studie3 2017 zum Ergebnis: «Je mehr Fett aufgenommen wird, desto tiefer ist die Inzidenz für eine KHK.»
Trotz dieser Resultate wird in den aktuellen US-Ernährungs-Guidelines 2020–2025 für gesunde Amerikaner noch immer empfohlen, nicht mehr als 10 % der gesamten Energiemenge an gesättigten Fettsäuren aufzunehmen. Auch in der Schweiz gilt diese Richtlinie noch. «Das ist gegen jede Evidenz», sagte Dr. Imoberdorf.
Die Daten zu den gesättigten Fettsäuren haben dennoch etwas verändert. «Man kommt davon weg, einzelne Nahrungsbestandteile als rotes Tuch zu deklarieren und den Leuten zu verbieten, diese zu konsumieren», erklärte der Referent. Nur schlechte oder nur gute Lebensmittel gibt es nicht. Ernährungswissenschaftlich steht deshalb vermehrt die gesamte Food-Matrix im Fokus.
Ei und Salz – doch nicht so schädlich?
Die Hypothese «Nahrungs-Cholesterin ist tödlich» hat einst der US-Ernährungswissenschaftler Ancel Keys kreiert – und sie 1956 gleich selbst wieder verworfen.4 «Trotzdem lebt sie bis heute weiter. Ebenso die Empfehlung, nicht mehr als 300 mg Cholesterin pro Tag aufzunehmen», so Dr. Imoberdorf.
Weil die empfohlene Menge gerade etwa dem Cholesteringehalt in einem Hühnerei entspricht, ist in der Vergangenheit über Jahre auch vom täglichen Frühstücksei abgeraten worden. «Das ist evidenzmässig ein völliger Quatsch», erklärte Dr. Imoberdorf.
In den US-Ernährungs-Guidelines betonen heute Experten, Cholesterin in der Nahrung spiele keine Rolle für die Herz-Kreislauf-Gesundheit. Doch sie empfehlen nach wie vor, auf das Nahrungs-Cholesterin zu achten. In der Schweiz ist dies nicht anders. «Dabei könnte offiziell klar deklariert werden, dass es überhaupt keine Rolle spielt, wie viel Cholesterin konsumiert wird», betonte der Referent.
Eine erst dieses Jahr veröffentlichte Studie5 aus Bern gibt nun auch Entwarnung für den Salzkonsum. Ihr überraschender Schluss: Je mehr Salz aufgenommen wird, desto grösser ist die Wahrscheinlichkeit, viele Jahre in völliger Gesundheit leben zu können, und desto geringer ist die Gesamtsterblichkeit. In der Untersuchung wurden die gesundheitlichen Folgen eines täglichen Kochsalzkonsum zwischen 4 g und 10 g untersucht. Das ist deutlich mehr, als in den USA die AHA (American Heart Association) mit 1,5 g/Tag empfiehlt.
«Low carb» beim metabolischen Syndrom
In der Ernährung ein Verbesserungspotenzial sieht der Experte allerdings beim Zuckerkonsum. Zwischen 1850 und 2015 hat sich dieser in der Schweiz versiebzehnfacht – von 3 kg pro Jahr und Person auf 52 kg pro Jahr und Person. Insbesondere ab 1980 erhöhte sich der Zuckerverbrauch rasant, zeitgleich mit dem Aufkommen von Soft- und Energiedrinks und paradoxerweise zeitgleich mit den ersten Ernährungs-Richtlinien über low carb / low fat.
Diese massive Zunahme sei denn auch ein Hauptgrund, warum es in der Schweiz zu einer Epidemie der nichtalkoholischen Fettleber gekommen sei, so der Experte. Im Verlauf kann sich diese NAFLD zu einer Zirrhose und einem hepatozellulären Karzinom weiterentwickeln. Die PURE-Studie3 zeigte denn auch: Je mehr Zucker aufgenommen wird, desto höher ist die Gesamtsterblichkeit.
Die Zunahme des Zuckerkonsums sei auch ein wesentlicher Grund für die Entwicklung der Adipositas in der Bevölkerung, so der Referent weiter. In den USA nahm der Anteil fettleibiger Menschen zwischen 1980 und 2010 von 13 % auf 34 % zu. «Mittlerweile sind wohl mehr als 60 % der US-Amerikaner massiv übergewichtig», sagte er. Die Empfehlung der WHO – maximal 25–50 g Kohlenhydrate pro Tag – sollte deshalb unbedingt beherzigt werden.
Für Patienten mit einem voll ausgebildeten metabolischen Syndrom empfahl Dr. Imoberdorf gar eine strenge Low-carb-Diät. Denn Daten6 zeigen, dass sich mit einer Low-carb-/High-fat-Diät bei 50 % der Patienten das metabolische Syndrom komplett zurückbildet.
Anpassung von Ernährung und Lebensstil
«Eine ideale Ernährungsform gibt es nicht», lautete das Fazit des Experten am Ende seines Vortrages. Der Allesfresser Mensch sei bestens angepasst an ein breites Spektrum unterschiedlicher Nahrungsmittel und viele unterschiedliche Ernährungsformen. «Allerdings», so räumte er ein, «hat die westliche Ernährungsart zusammen mit dem modernen Lebensstil Zivilisationskrankheiten gefördert.» In den reichen Industrieländern sei deshalb eine Ernährungsanpassung sinnvoll.
Günstig ist laut Dr. Imoberdorf eine massvolle, vorwiegend pflanzliche Ernährung, die aus möglichst unbehandelten Lebensmitteln aus der Region und aus Fleisch von gut ernährten Tieren besteht.
Aktuelle Ernährungsempfehlungen für Allgemeinpraktiker finden sich auf der Wissensplattform für Hausärzte unter
Referenzen
- Yudkin J et al. Lancet 1957; 273(6987): 155–162.
- Wilson PW et al. Am J Med 1991; 90(1): 11–16.
- Dehghan M et al. Lancet 2017; 390(10107): 2050–2062.
- Keys A et al. J Nutr 1956; 59(1): 39–56.
- Messerli FH et al. EHC 2021; 42: 2103–2112.
- JCI Insight 2019;4(12):e128308