Medical Tribune
17. Mai 2024Neue Daten weisen auf möglichen Oxytocin-Mangel hin

Den Arginin-Vasopressin-Mangel richtig diagnostizieren und behandeln

Der Arginin-Vasopressin-Mangel (AVP-Mangel bzw. ADH-Mangel), wurde bis 2022 «zentraler Diabetes insipidus» genannt. Er verursacht übermässigen Durst (Polydipsie) und Urinproduktion (Polyurie). Beikommen lässt sich diesen Symptomen primär durch eine Behandlung mit dem AVP-Analog Desmopressin. Neue Daten zeigen, dass psychische Erkrankungen bei Patienten mit AVP-Mangel unterschätzt sind.

Ein AVP-Mangel ist durch übermässiges Trinken und Urinproduktion gekennzeichnet.
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Haben Patienten einen Mangel an oder eine Resistenz gegenüber dem antidiuretischen Hormon (ADH, bzw, AVP), führt das zu einem Polyurie-Polydipsie-Syndrom. Dieses ist durch übermässiges Ausscheiden von Urin (40-50 ml pro kg Körpergewicht innerhalb von 24 Stunden), sowie durch exzessives Trinken (mehr als 3 Liter pro Tag) gekennzeichnet.

Polydipsie, Polyurie, Elektrolytstörungen

Ein Arginin-Vasopressin-Mangel (AVP-Mangel, vor 2022 noch Diabetes insipidus genannt, siehe Kasten) entsteht als Folge von Störungen der AVP-Sekretion in der Hypophyse. Die häufigsten Ursachen sind dabei Verletzungen der Hypophyse durch Tumoren, Operationen, oder infiltrative Erkrankungen. Je nachdem, wie viel AVP die Hypophyse noch bilden kann, unterteilt man den AVP-Mangel in einen partiellen oder vollständigen. Der AVP-Mangel ist vergleichsweise selten, mit rund einem Betroffenen von 25.000 Personen.

Die AVP-Resistenz, früher «nephrogener Diabetes insipidus» genannt, bezeichnet hingegen eine Abwesenheit der Reaktion der Nieren auf AVP.

Von «Diabetes insipidus» zu Arginin-Vasopressin-Mangel/-Resistenz

Im Jahr 2022 wurde der zentrale Diabetes insipidus in AVP-Mangel, und der nephrogene Diabetes insipidus in AVP-Resistenz umbenannt. Die Umbenennung erfolgte, um eine Verwechslung mit Diabetes mellitus zu vermeiden, die vielen Patienten mit den beiden Syndromen zuvor mitunter eine falsche Behandlung einbrachte.

Das zeigt etwa eine Umfrage mit rund 1.000 Patienten mit ADH-Mangel, von denen 80 Prozent aussagten, von Ärzten und Pflegepersonal falsch behandelt worden zu sein und unter anderem Blutzuckermessungen wegen Verwechslung mit Typ 2 Diabetes erhalten zu haben (1).

Bei Patienten mit einem AVP-Mangel können schwere Elektrolytstörungen (z.B. Hypernatriämie) auftreten. Diese werden jedoch meist beobachtet, wenn Patienten nicht mehr in der Lage sind, die Polyurie durch Polydipsie zu kompensieren. Besonders häufig tritt dieser Fall in Zuständen mit verändertem Bewusstsein ein (z.B. bei Operationen oder Bewusstlosigkeit), aber auch bei wachen Patienten, bei denen das Durstempfinden beeinträchtigt ist. 

Wichtig ist die Unterscheidung des AVP-Mangels von einer primären Polydipsie

Nach dem Auffälligwerden eines Polyurie-Polydipsie-Syndroms ist eine sorgfältige Diagnostik wichtig, schreibt ein Expertenteam unter der Führung von Professor Dr. Mirjam Christ-Crain von der Abteilung für Endokrinologie, Diabetologie und Metabolismus des Universitätsspitals Basel in seiner Übersichtsarbeit im Journal Nature Reviews Endocrinology (2).

Denn die Beschwerden können neben dem AVP-Mangel und der AVP-Resistenz auch noch von einer primären Polydipsie verursacht werden, sowie durch andere Erkrankungen, wie

  • Typ-2-Diabetes
  • Elektrolyt-Entgleisungen wie die Hyperkalzämie oder Hypokalämie, sowie die
  • Chronische Nierenerkrankung.

Während diese Störungen aber normalerweise mit einer hypertonen Polyurie einhergehen, ist ein AVP-Mangel, die AVP-Resistenz und die primäre Polydipsie mit einer hypotonen Polyurie verbunden. Essenziell an der Diagnostik ist es daher zunächst, eine primäre Polydipsie (siehe Kasten) auszuschliessen, so die Autoren.

Primäre Polydipsie

Bei der primären Polydipsie haben Menschen ein pathologisch gesteigertes Durstgefühl und trinken übermässig viel Flüssigkeit. Die Polydipsie wird normalerweise von einer vermehrten Harnausscheidung (Polyurie) begleitet.

Eine chronische Polydipsie führt dabei mit der Zeit zu einer verminderten Konzentrationsfähigkeit der Nieren, sowie zu einer Unterdrückung der Freisetzung von AVP, wodurch ein AVP-Mangel oder eine AVP-Resistenz imitiert wird.

Die primäre Polydipsie tritt nicht wie früher gedacht immer im Zusammenhang mit psychiatrischen Störungen auf, sondern ist oft bei gesundheitsbewussten Personen zu finden, die über ihre Durstgrenze hinaus Flüssigkeit zu sich nehmen.

Diagnostik

Bei Verdacht auf einen AVP-Mangel wird üblicherweise als erstes eine Magnetresonanztomografie der Hypothalamus-Hypophysenregion durchgeführt. Bei vielen Patienten mit AVP-Mangel fehlt die normalerweise hell erscheinende (hyperintense) Hypophyse im MRT. Ein weiterer charakteristischer radiologischer Befund bei einem AVP-Mangel ist ein verdickter Hypophysenstiel.

Um die hypotone Polyurie (< 800 mOsm/kg) zu bestätigen, empfehlen die Autoren das Sammeln des Urins über 24 Stunden. Charakteristisch für AVP-Mangel und -Resistenz sind ausserdem eine erhöhte Plasma-Natrium-Konzentration (> 147 mmol/L) und Osmolalität  (≥300 mOsm/kg), welche jedoch nur auftritt, wenn die Polyurie nicht mit einer Polydipsie kompensiert werden kann.

Eine niedrige Plasma-Natrium-Konzentration (<135 mmol/L) und Osmolalität (≤280 mOsm/kg) sprechen dagegen eher für eine primäre Polydipsie. Bei den meisten Patienten ist diese Konstellation hingegen weniger klar – sie benötigen weitere Abklärungen.

Copeptin-Messung

Zu diesen gehörte für viele Jahre der indirekte Dursttest, der aber mittlerweile weitgehend durch die Messung des Copeptin-Anstiegs nach osmotischer Stimulation abgelöst wurde.

Bei der Copeptin-Messung erhält der Patient eine intravenöse hypertone Salzlösung. Im Anschluss misst man den Anstieg des Plasmanatriumspiegels über die Zeit. Sobald der Plasmanatriumspiegel nach der Infusion auf ≥ 150 mmol/l ansteigt, wird das Copeptin gemessen, und das Plasmanatrium wieder gesenkt.

Beim Copeptin handelt es sich um ein Peptid, das gemeinsam mit dem AVP im Hypothalamus produziert und vom hinteren Hypophysenlappen sezerniert wird, und eine hohe Stabilität ex vivo aufweist. Diese Methode hat eine deutlich höhere diagnostische Genauigkeit als der frühere Standard des indirekten Durstversuchs, und kann mit einer Genauigkeit von rund 96 Prozent zwischen einer primären Polydipsie und einem AVP-Mangel unterscheiden.

Management des AVP-Mangels

Bei Patienten mit einem AVP-Mangel sind die wichtigsten Behandlungsziele die Reduktion der Polyurie und Polydipsie, und damit die Korrektur bereits bestehender Wasserdefizite und die Verringerung des anhaltenden übermässigen Wasserverlustes über den Urin.

Die wichtigste Behandlung besteht schon seit den 1970er Jahren in der Gabe von Desmopressin. Sie reduziert die Polyurie und Poyldipsie und ermöglicht es den Patienten, wieder einen normalen Lebensstil zu verfolgen.

Desmopressin ist in Tablettenform, als sublinguale Schmelztabletten, als Nasenspray, als Infusionslösung oder in einer subkutan zu verbreichenden Formulierung verfügbar. Zu Beginn wird Desmopressin üblicherweise einmal abends eingenommen, um den nächtlichen Harndrang zu verringern. Die optimale Dosis ist für jeden Patienten individuell zu eruieren, einige Patienten benötigen häufigere Gaben.

Die wichtigste Nebenwirkung von Desmopressin ist die Verdünnungshyponatriämie – sie betrifft bis zu 30 Prozent der ambulanten Patienten.

Nach Behandlungsstart mit Desmopressin sollten Patienten daher nach Durst trinken, und auf Symptome einer Hyponatriämie achten. Zu diesen gehören

  • Übelkeit
  • Erbrechen
  • Kopfschmerzen, und
  • Lethargie.

Ausserdem sind die Plasmanatriumspiegel in den ersten Behandlungstagen regelmässig zu überprüfen.

Langfristig kann man das Risiko einer Hyponatriämie unter Desmopressin durch die sogenannte Desmopressin-Escape-Methode verringern. Dabei lassen Patienten entweder eine Desmopressin-Dosis pro Woche aus oder verschieben eine oder mehrere Einnahmen, bis dass eine verstärkte Wasserausscheidung eintritt.

Haben Patienten mit AVP-Mangel auch einen Oxytocin-Mangel?

Der Hypothalamus bildet neben AVP unter anderem auch das Hormon Oxytocin. Die Forschung der vergangenen Jahre zeigt, dass es zwischen den Signalwegen bei der Oxytocinsekretion und AVP-Sekretion deutliche Interaktionen gibt. Störungen der Hypothalamus-Hypophysen-Achse, die einen AVP-Mangel verursachen, könnten deshalb auch zu einem zusätzlichen Oxytocin-Mangel führen.

Oxytocin ist unter anderem für Verhaltensweisen der sozialen Interaktion wichtig, wie die Emotionserkennung, den Bindungsaufbau, und die Empathie. Ein Mangel an Oxytocin könnte bei Betroffenen mit AVP-Mangel daher zu zusätzlichen psychischen Störungen führen.

Laut den Autoren kommen psychologische Probleme bei Patienten mit einem AVP-Mangel auch noch unter Desmopressin-Behandlung gehäuft vor. So klagen viele Betroffene über Angst, Schlafstörungen, Depressionen und Stress. In einer Studie beurteilten insgesamt 64 Prozent von rund 1.000 befragten Betroffenen ihre Lebensqualität als eingeschränkt, mit Einschnitten bei Freizeit- und sozialen Aktivitäten, sowie beim körperlichen und mentalen Wohlbefinden (1).

Hilft eine Oxytocin Behandlung Patienten mit AVP-Mangel?

Ein Oxytocinmangel ist jedoch schwer nachzuweisen, und bisherige Daten sind uneindeutig. Eine Untersuchung aus dem Jahr 2023 zeigte jedoch, dass bei Gesunden nach Verabreichung von Methylendioxymethamphetamine (MDMA), auch bekannt als die Freizeitdroge Ecstasy, die Oxytocin-Werte im Plasma um das Achtfache anstiegen (3). Dieser Anstieg blieb hingegen bei Betroffenen von AVP-Mangel aus. Darüber hinaus gaben die Patienten mit AVP-Mangel im Gegensatz zu den Kontrollpersonen abgeschwächte oder keine Reaktionen auf MDMA an (z.B. angenehme oder angstlindernde Wirkung, Hochgefühl).

Erste sehr präliminäre Studien mit rund zehn Patienten suggerierten, dass die intranasale Anwendung von Oxytocin-Sprays soziale Funktionen von Patienten mit AVP-Mangel möglicherweise verbessern könnten.

Weitere und grössere Untersuchungen werden laut den Autoren jedoch dringend benötigt, um den therapeutischen Wert von Oxytocin abzuklären. Entsprechend haben die Autoren eine grosse Interventionsstudie gestartet, bei der >100 Patienten mit AVP Mangel eingeschlossen und entweder mit Oxytocin Nasenspray oder mit Placebo behandelt werden.