Medical Tribune
16. Juli 2024Rechtzeitig diagnostizieren, individuell behandeln

Neue Empfehlungen für die Diagnose und Behandlung von ME/CFS veröffentlicht

Ein interdisziplinäres Expertenteam aus Deutschland, Österreich und der Schweiz hat neue Konsensus-Richtlinien zur Diagnostik und Behandlung von Myalgischer Enzephalomyelitis / Chronischem Fatigue-Syndrom (ME/CFS) veröffentlicht. Ziel der Empfehlungen ist es, die Patientenversorgung zu verbessern, bei der es immer noch gravierende Missstände gibt.

Für Patienten mit ME/CFS fühlen sich Alltagstätigkeiten an wie ein Marathon.
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Für Patienten mit ME/CFS fühlen sich Alltagstätigkeiten wie ein Marathon an.

Myalgische Enzephalomyelitis/Chronisches Fatigue-Syndrom (ME/CFS) bezeichnet eine schwerwiegende Multisystemerkrankung, die unter anderem das zentrale und autonome Nervensystem, Immunsystem und Energiestoffwechsel betrifft.

Das neue Konsensus-Statement wurde von einem interdisziplinären Team aus klinischen Forschern, Wissenschaftlern und Vertretern von Patientenorganisationen erarbeitet (1).

Erkrankung entsteht meist infolge Infektion

In 80 Prozent ist ME/CFS eine postakute Folge einer Infektion, wie etwa durch Influenza oder mit dem Epstein-Barr-Virus.

Zu einem immensen Anstieg der Fälle hat aber auch die SARS-CoV-2-Pandemie geführt. Ging man vor der Pandemie von 0,3–0,9 Prozent der Gesamtbevölkerung aus, die an ME/CFS litten, ist Studien zufolge derzeit mindestens mit einer Verdopplung der Anzahl der Betroffenen zu rechnen.

Aber selbst diese Orientierung dürfte die wahre Anzahl der Betroffenen stark unterschätzen: Internationale Studien gehen davon aus, dass bis zu 90 Prozent der ME/CFS-Betroffenen entweder nicht oder falsch diagnostiziert sind.

Frauen sind deutlich häufiger von ME/CFS betroffen als Männer. Die Erkrankung kann dabei in jedem Alter auftreten, seit 2020 liegt der Altersgipfel aber zwischen 30 und 50 Jahren.

Anzeichen von ME/CFS

Die wichtigsten Kennzeichen der ME/CFS sind die Fatigue und Post-exertionelle Malaise (siehe Kasten).

Post-exertionelle Malaise

PEM bezeichnet eine Zustandsverschlechterung («Crash»), die nach oft bereits geringer körperlicher, kognitiver, mentaler, orthostatischer oder sensorischer Belastung auftritt, die vormals toleriert wurde. Die Verschlechterungen können Tage bis Wochen anhalten, und dauern typischerweise mindestens 14 bis 24 Stunden. Jeder «Crash» birgt das potenzielle Risiko einer permanenten Verschlechterung des Gesamtzustandes.

Bei Patienten mit PEM können daher auch Ansätze aus der Psychotherapie oder Physiotherapie kontraproduktiv sein, wenn sie nicht an die ME/CFS angepasst sind. Diese können schwere Crashes nach sich ziehe, warnen die Autoren.

Im Rahmen der körperlichen Untersuchung fallen aber oft noch andere Anzeichen auf, darunter:

  • kalte oder feuchte Hände, manchmal mit leichter Blaufärbung der Extremitäten, Raynaud-Phänomene, marmorierte Beschaffenheit der Haut
  • Erhöhter Ruhepuls
  • gerötete Augen
  • Schwellungen im Gesichtsbereich
  • Vergrösserte Lymphknoten
  • Halsschmerzen
  • Entzündliche Veränderungen der Mundschleimhaut

Erhebliche Einschränkungen

Bei den meisten Patienten ist die ME/CFS mit erheblichen körperlichen und kognitiven Einschränkungen verbunden. So führt die Erkrankung nach aktueller Definition bereits in «leichter» Ausprägung oft zu einer Verringerung des möglichen Aktivitätslevels im Alltag um 50 Prozent.

Sehr schwer von ME/CFS Betroffene sind vollständig bettlägerig und pflegebedürftig, stark reizempfindlich, und können oft nicht mehr sprechen, selbständig essen oder ärztliche Hilfe aufsuchen.

ME/CFS hat daher erhebliche Auswirkungen auf soziales Leben und Teilhabe der Betroffenen. Ein Grossteil der Betroffenen ist etwa zumindest zeitweise nicht arbeitsfähig, ein Viertel pflegebedürftig. Besonders bei Kindern, Jugendlichen und jungen Erwachsenen führt die Erkrankung ausserdem zu erheblichen Fehlzeiten in Schule und Ausbildung.  

Klinische Diagnose ME/CFS

Bei erwachsenen Betroffenen werden für die Diagnose derzeit meist die kanadischen Konsensuskriterien (CCC) herangezogen (siehe Kasten). Diese stützen sich auf das Vorhandensein der post-exertionellen Malaise.

Eine genaue Anamnese und klinische Untersuchung sind dabei auch essenziell, um andere Erkrankungen, die ebenfalls von Fatigue begleitet sind, abzugrenzen.

Diagnose der ME/CFS nach kanadischen Konsensuskriterien (CCC)*

Hauptkriterien:

  1. Post-exertionelle Malaise (PEM)
  2. Pathologische Fatigue mit Einschränkungen der Alltagsfunktionen

Nebenkriterien:

  • Manifestationen des autonomen Nervensystems
  • Neuroendokrine Manifestationen
  • Immunologische Manifestationen

* die Diagnose ME/CFS erfordert eine Erfüllung aller fünf Hauptkriterien, und zusätzlich die Erfüllung von zwei der drei Nebenkriterien, sowie eine Erkrankungsdauer von mindestens 6 Monaten bei Erwachsenen, und 3 Monaten bei Kindern und Jugendlichen

Routinelaboruntersuchungen zeigen bei ME/CFS meist keine oder wenige Auffälligkeiten. Die Autoren empfehlen dennoch, diese in angemessenem Umfang durchzuführen, um alternative Diagnosen auszuschliessen und Komorbiditäten festzustellen.

Weiterhelfen können etwa ein Blutbild mit

  • Leukozytendifferenzierung,
  • C‑reaktives Protein,
  • Ferritin,
  • Hämoglobin A1c,
  • Kreatinin,
  • Leberwerte,
  • LDH,
  • Bilirubin,
  • Elektrolyte mit Phosphat,
  • thyreoideastimulierendes Hormon inkl. fT3 und fT4,
  • die Immunglobuline G, A und M,
  • antinukleäre Antikörper (ANA),
  • anti-Thyreoperoxidase-Antikörper,
  • Zöliakie-Antikörper und
  • N‑terminales natriuretisches Propeptid vom B‑Typ (NT-proBNP).

Viele Betroffene weisen ausserdem eine spezielle Infektanfälligkeit auf – hier können serologische (z.B. Herpesvirus-Serologie) und immunologische Analysen (z.B. Impftiter, IgG-Subklassen) weitere Informationen bieten.

Orthostatische Dysfunktion

Besonderes Augenmerk sollte laut den Autoren auf eine mögliche orthostatische Dysfunktion des autonomen Nervensystems gelegt werden. Eine orthostatische Intoleranz zeigt sich dabei oft als posturales Tachykardiesyndrom (POTS) oder orthostatische Hypotonie. Orthostatische Symptome sind etwa

  • Schwindel
  • Benommenheit
  • Schwäche
  • Übelkeit
  • Herzrasen
  • Ohnmachtsanfälle.

Bei Patienten mit ME/CFS können orthostatische Belastungen zu einem Crash führen.

Abgeklärt wird die orthostatische Intoleranz – je nach Belastbarkeit – mittels passivem 10-Minuten-Stehtest (NASA-Lean-Test). Dabei liegt der Patient zunächst rund zehn Minuten auf einer Untersuchungsliege. Dabei wird der Ruhepuls bestimmt. Im Anschluss lehnt sich der Patient mit den Schultern stehend an die Wand. Nun wird zehn Minuten lang minütlich Puls und Blutdruck gemessen. Als pathologisch gilt bei Erwachsenen ein anhaltender Pulsanstieg nach dem Aufrichten von mindestens 30 Schlägen pro Minute, der von Symptomen begleitet wird, die sich im Liegen wieder bessern.

Hypermobilität

Bei einem Verdacht auf ME/CFS sollte auch ein Screening auf Hypermobilität erfolgen: Viele Betroffene weisen ein hypermobiles Ehlers-Danlos-Syndrom auf, das mit Gelenk- und Muskelschmerzen in Verbindung gebracht werden kann. Betroffene mit Hypermobilität leiden auch häufiger unter dem obstruktiven Schlafapnoe-Syndrom.

ME/CFS ist primär kein psychiatrisches Problem

Mittels zeitgemässer Methoden lassen sich bei ME/CFS-Patienten körperliche Veränderungen nachweisen, die sehr wahrscheinlich mit dem klinischen Störungsbild in Zusammenhang stehen.

So konnten bei Patienten mit POTS mittels near-infrared-Spektrographie oder Doppler-Sonographie während einer Kipptischuntersuchung Perfusionsstörungen im Gehirn nachgewiesen werden, die bis zu mehrere Stunden anhalten können.

Bei der ME/CFS handelt sich also um keine primäre psychiatrische Störung, wie eine Depression oder Burn-out. Während Patienten mit diesen Manifestationen etwa unter ausgeprägten Motivations- und Antriebsstörung leiden, sind Motivation und Antrieb bei ME/CFS-Betroffenen unvermindert, schreiben die Autoren.

Jedoch können sich als Folge der fehlenden und falschen medizinischen Versorgung, Stigmatisierung, sozialen Isolation oder fehlenden sozialen Absicherung Traumatisierungen und depressive Reaktionen bis hin zur Suizidalität entwickeln. Diese sollten symptomorientiert und auf die ME/CFS abgestimmt behandelt werden. Die Psychotherapie hat bei ME/CFS ausschliesslich unterstützende Bedeutung, und wird ohne kurative Zielsetzung durchgeführt, so die Autoren.

Behandlung

Im Zentrum des ME/CFS-Managements steht laut den Autoren ein vorbeugendes Selbstmanagement, sowie Therapieansätze, die auf die Linderung von Symptomen abzielen. Sekundäre Massnahmen beinhalten auch die empathische psychosoziale Unterstützung.

Pacing

Die wichtigste Therapiesäule bei der ME/CFS besteht dabei aus dem Pacing, einem individuellen Aktivitäts- und Energiemanagement, das Erkrankten helfen soll, innerhalb der eigenen Leistungsgrenzen zu bleiben, um eine Zustandsverschlechterung durch PEM zu vermeiden.

Ziel ist es dabei, den Gesamtzustand nach Möglichkeit zu stabilisieren und eine fortlaufende Verschlechterung durch wiederholte PEM zu verhindern.

Für ME/CFS Betroffene ist es dabei wichtig, ihren Tagesablauf mit allen Aktivitäten möglichst gut an ihre Leistungsgrenzen anzupassen. Hilfreich sind dabei Routinen und Hilfsmittel wie Pulsuren. Am wichtigsten ist jedoch das Einübgen von Selbstbeobachtung und einer verlässlichen Körperwahrnehmung.

Symptomatische Linderung der begleitenden klinischen Problematik

Mittlerweile gibt es bereits erste, jedoch noch schwache, Evidenzen für orientierende Behandlungsvorschläge (siehe Tabelle). Bei diesen handelt es sich weiterhin oft um «off-label»-Therapien.

StörungTherapie
Orthostatische DysfunktionTrinken von mindestens 3 L Flüssigkeit pro Tag, erhöhte Salzzufuhr, Stützstrumpfhose/Bauchbinde, Medikamente (z.B. Ivabradin/Nebivolol), Mestinon, Fludrocortison, Midodrin
SchlafstörungenSchlafhygiene, retardiertes Melatonin, H1-Antihistaminika der 1. Generation, Tryptophan, niedrig dosierte trizyklische Antidepressiva,
SchmerzenMultimodale Schmerztherapie, Paracetamol/Ibuprofen/Metamizol Pregabalin, Gabapentin, niedrig dosierte trizyklische Antidepressiva oder Low-Dose-Naltrexon. Kein Amitriptylin bei Tachykardie und POTS
NeuropathiePregabalin, Gabapentin, trizyklische Antidepressiva, Kompressions- oder Korsett-Therapie
Gastrointestinale und urogenitale ProblemeAbklärung (Nahrungsmittelunverträglichkeit, Dysbiose, Leaky Gut, SIBO), ausgewogene Ernährung, entzündungshemmende Diäten (Low-FODMAP)
InfektionskontrolleImmunglobiline bei Immundefizienz
Sekundäre psychische ProblemePsychotherapeutische Unterstützung
Ernährung und NahrungsergänzungsmittelProteinreiche Ernährung mit ausreichend ungesättigten Fettsäuren, z.B. Omega 3. Auslgiech eines Eisen-, Folsäure-, Vitamin D- und Vitamin B12-Mangels
Aktive Allergie, Mastzellüberaktivität oder MCASH1- und H2-Antihistaminika, eventuell auch Mastzellstabilisator wie Cromoglicinsäure oder Ketotifen

Sozialsystem ist nicht auf ME/CFS vorbereitet

Derzeit ist die Prognose der Erkrankung schlecht, nicht nur weil eine kurative Therapie fehlt, sondern auch wegen des oft grossen zeitlichen Abstands zwischen dem Einsetzen der Symptome und der Diagnosestellung bzw. medizinischen Versorgung.

So dauert es in der Schweiz, Deutschland und Österreich im Durchschnitt zwischen fünf und sieben Jahren, bis Patienten die korrekte Diagnose ME/CFS erhalten.

Betroffene in der Schweiz suchten auf ihrem Weg zur Diagnose ME/CFS dabei in einer Studie im Schnitt mehr als elf unterschiedliche Ärzte auf und erhielten durchschnittlich 2,6 Fehldiagnosen.

Die Autoren des aktuellen Übersichtsartikels warnen dabei, dass sich durch diese Verzögerung der Gesundheitszustand der Betroffenen unumkehrbar verschlechtern kann, und raten daher dringend zu einer frühzeitigen und korrekten Diagnostik.

Sie kritisieren zudem, dass medizinische Strukturen und soziale Absicherung von ME/CFS-Betroffenen fehlen.