Medical Tribune
28. März 2024Prof. Dr. Ludwig Kappos und Prof. Cristina Granziera, Basel, im Interview

MS: Neues zu Therapie, Risikomanagement und Fatigue

Am diesjährigen Kongress der Schweizerischen MS-Gesellschaft hatten wir die Gelegenheit zu einem Interview mit Professor Dr. Ludwig Kappos, Direktor des Research Center of Clinical Neuroimmunology and Neuroscience, Basel (RC2NB) und mit Professor Dr. Cristina Granziera, Co-Direktorin des RC2NB und gleichzeitig Co-Präsidentin des medizinisch-wissenschaftlichen Beirats der MS-Gesellschaft. Sie äusserten sich zu den Highlights des diesjährigen MS-State-of-the-Art Symposiums.

Prof. Cristina Granziera
zVg

Prof. Cristina Granziera

Co-Direktorin des Research Center of Clinical Neuroimmunology and Neuroscience, Basel

Prof. Ludwig Kappos
zVg

Prof. Ludwig Kappos

Direktor des Research Center of Clinical Neuroimmunology and Neuroscience, Basel

Mit der heiklen Frage, welches Risiko man für welchen Benefit einer MS-Behandlung in Kauf nehmen muss, befasste sich Professor Dr. Fredrik Piehl, Stockholm. Welche praxisrelevanten Erkenntnisse resultierten für Sie?
Prof. Kappos: Wir sind bei der MS seit Jahren, sogar Jahrzehnten, in der glücklichen Lage, immer wirksamere Therapien zu haben, zumindest bei der schubförmig verlaufenden MS. Weniger deutlich sind die Fortschritte hinsichtlich der MS-Progression. Die Tendenz ist, möglichst rasch nach der Diag­nosestellung auf die wirksamste Therapieoption einzustellen. Denn viele der sehr wirksamen MS-Therapien sind mit erfreulich wenig Nebenwirkungen behaftet.

Trotzdem bedeutet es immer auch ein Risiko, da nicht nur die MS-bedingte Immundysregulation adressiert wird, sondern auch andere Strukturen und Funktionen des Immunsystems potenziell in Mitleidenschaft gezogen werden. Bei den ersten klinischen Studien mit hochwirksamen MS-Medikamenten, gab es durchaus Bedenken, dass man zu umfassend eingreift und mögliche Schäden den Nutzen in Frage stellen. Das betraf insbesondere eine Schädigung des Immunsystems, mit vermehrten Infekten und auch Tumoren.

Mit zunehmender Therapiedauer wird ein nicht unwesentlicher Teil des Immunsystems ausgeschaltet – und noch ist nicht vollständig geklärt, wie der Körper damit auf lange Sicht zurechtkommt. Die Beobachtung über inzwischen mehr als zehn Jahre bestätigte eine leicht erhöhte Infektionsrate unter B-Zell-depletierenden Therapien wie Ocrelizumab oder Ofatumumab. Im Zusammenhang mit Covid-19 gibt es Hinweise, dass Anfälligkeit und Schweregrad der Infektion etwas höher sind, aber nicht gravierend.

Wenn wir nun offenbar in der Lage sind, die MS ganz gut zu beherrschen, kommt die Frage des Deeskalierens auf. Prof. Piehl war dazu berufen, diese Fragen zu diskutieren, da in Schweden schon seit vielen Jahren auf breiter Front, und mehr als in anderen Ländern, B-Zell-depletierende Therapien eingesetzt und gut dokumentiert wurden durch MS-Kohorten- und Register-Studien. Das Fazit von Prof. Piehl: Es gibt Hinweise, dass man deeskalieren kann, aber noch wissen wir nicht, welche MS-Patienten sich dafür eignen, dazu braucht es prospektive klinische Studien.

Eine neue Studie, MULTI­SCRIPT, basierend auf der Schweizer MS-Kohortenstudie, wird sich dieser Frage widmen. Sie soll zeigen, ob die Neurofilament-Leichtketten (NFL), zusätzlich zum MRI und klinischen Markern, die Entscheidungsqualität verbessern können. Man vergleicht randomisiert, wobei die eine Hälfte der Teilnehmenden Informationen über den NFL-Status erhält, und die andere nicht. In einem DELPHI-Prozess haben die beteiligten Zentren unter Mitwirkung von internationalen Experten und Patientenvertretern einen Konsensus definiert, wie Patienten hinsichtlich einer Eskalation oder Deeskalation der MS-Therapie gezielt beraten werden.

In Schweden haben B-Zell-depletierende MS-Therapien als First-Line-Therapie einen sehr hohen Stellenwert. Wie steht es mit der Schweiz?
Prof. Kappos: Der Stellenwert nimmt auch in der Schweiz zu, nach neueren Marktstatistiken dominieren diese inzwischen als meist verschriebene Therapien. Ausserdem ist unverkennbar, dass B-Zell-depletierende Medikamente immer früher im MS-Verlauf eingesetzt werden. Eine Studie mit sehr frühem Einsatz, schon ab CIS-Stadium, ist unterwegs.

Welches sind die entscheidenden Risiken unter einer B-Zell-depletierenden MS-Therapie und wie lassen sich diese managen?
Prof. Kappos: Diese haben wir ja bereits kurz angeschnitten; zur Risikominimierung haben im Rahmen des MS-Managements Impfungen einen hohen Stellenwert, ebenso wie die konsequente Überwachung der Patienten.

Was halten Sie von der schwedischen Empfehlung, bei MS-Patienten, die unter einer anti-CD-20-Therapie mit Ocrelizumab oder Ofatumumab stabil sind, die Infusionsintervalle auf 24 Monate zu verlängern?
Prof. Granziera: Natürlich wäre es wünschenwert, derartige Entscheidungen aufgrund der Daten grosser randomisierter kontrollierter Studien fällen zu können. Im Moment fehlen uns noch die Daten für eine derartige Verlängerung der Infusionsintervalle. Um die Therapieeffekte nicht zu gefährden, nutzen wir bisher klinische und radiologische Untersuchungen – alle sechs bis zwölf Monate. In sehe zwei grundsätzliche Aspekte: Kommt bei schubfreien Patienten ohne Schübe und Aktivität im MRI eine Deeskalierung in Frage, oder braucht es subtilere Instrumente, um eine solche Entscheidung zu treffen? Besteht möglicherweise eine Progression unterhalb unserer aktuellen Detektionsschwelle z.B. für kognitive Defizite? Eine neue Studie untersucht, ob man mit einer Dosiserhöhung der anti-CD20-Therapie einen höheren Benefit im Sinne einer weiteren Progressionsverzögerung erzielt – oder ob unerwünschte Effekte auftreten.

Zu den seit Jahren kontrovers diskutierten Themen gehört das Management von Personen mit radiologisch isoliertes Syndrom, RIS. Sie zeigen im MRI Hinweise auf eine potenziell beginnende MS, ohne entsprechende neurologische Symptome. Welche neuen Erkenntnisse lieferten die Studien ARISE und TERIS?
Prof. Granziera: Sicherlich ist beim RIS das Risiko erhöht, eine MS-zu entwickeln. Die beiden Studien ARISE­ mit Dimethylfumarat und TERIS mit Teriflunomid zeigten, dass diese Medikamente beim RIS effektiv sind. Man überlegt aktuell eine Änderung der Therapieempfehlung, basierend auf neuen Biomarkern. Doch das ist alles noch im Fluss.

Prof. Kappos: Zurzeit kann eine prophylaktische Therapie bei RIS nur off label erfolgen, da beide MS-Präparate keine Zulassung beim RIS haben. Die entsprechenden Entscheidungen von Swissmedic und BAG als Voraussetzung für eine Kostenerstattung stehen noch aus.

Professor Dr. Andrew Chan präsentierte das «MS Treatment Update». Welche Erkenntnisse sind für den Alltag in der MS-Sprechstunde aus Ihrer Sicht ­relevant?
Prof. Kappos: Mit seiner umfassenden Übersicht zielte er letztlich darauf ab, dass wir MS-Medikamente so auswählen, dass auch die langsame Progression weiter hinausgezögert wird. Hier besteht unverändert Verbesserungsbedarf, sowohl hinsichtlich der Neuentwicklung von Medikamenten als auch hinsichtlich der individuell angepassten Eskalation und Deeskalation. Für praktizierende Neurologen scheint mir wichtig zu sein, dass wir unsere genuinen Skills wieder mehr aktivieren, sehr genau beobachten und differenziert analysieren. Nur dann können wir aus dem breiten Angebot das optimale Therapiekonzept für den individuellen MS-Patienten entwickeln.

Neben den MS-Medikamenten gewinnen digitale Devices wie Smart-Watch oder Smart-Phone eine zunehmende Bedeutung – nicht nur für eine subtile und umfassende kontinuierliche Verlaufs-Beobachtung, sondern auch als Hilfsmittel für die Therapie, z.B. das kognitive Training.

Welche Besonderheiten gelten für Impfungen bei Personen mit MS?
Prof. Kappos: Allgemein lässt sich festhalten, dass die für Erwachsene empfohlenen Standardimpfungen auch bei Personen mit MS sinnvoll sind. Lediglich bei Lebendimpfstoffen, z.B. vor Tropenreisen, gelten gesonderte Bestimmungen. Speziell vor Beginn mit einer hochwirksamen MS-Therapie sollte man den Impfstatus überprüfen und wenn immer möglich aktualisieren. Wenn die MS sehr aktiv ist, kann das «ein Rennen gegen die Zeit» werden.

Im Verlauf einer MS muss mit nachlassenden kognitiven Fähigkeiten gerechnet werden. Gibt es Möglichkeiten, dieser Entwicklung gegenzusteuern?
Prof. Kappos: Das eigentliche Problem liegt in der langsamen Progression. Die Kognition verschlechtert sich de facto bei einem Grossteil der MS-Betroffenen, und kann teilweise – unterschiedlich lang – kompensiert werden. Einerseits haben wir die MS, die Funktionen beeinträchtigt, doch dem gegenüber stehen regenerative Prozesse, welche die Defizite abmildern können. Auch die MS-Therapie zeigt hier wahrscheinlich günstige Effekte, im Sinne der Progressionsverzögerung.

Neuropsychologische Untersuchungen können hilfreich sein, doch fehlt es oft an der Akzeptanz. Hier könnten digitale Devices eine Verbesserung bringen sowohl bei der Erfassung als auch beim Training.

Mindestens 75 % der MS-Patienten leiden unter einer Fatigue. Wie lässt sich diese messen und was kann man diesen Patienten bieten?
Prof. Granziera: Unter Fatigue bei MS versteht man einen Status, der nicht nur eine motorische Fatigue umfasst, mit verlangsamter motorischer Aktivität und rascher Ermüdung, sondern auch zusätzlich die zunehmende Mühe mit kognitiven Aktivitäten, rascher geistiger Ermüdbarkeit und fehlender Konzentrationsfähigkeit. Wir interpretieren das als Folge einer entzündlichen Aktivität im Rahmen der MS. Die Fatigue lässt sich messen, mit Skalen für motorische und kognitive Fatigue. Entscheidung ist jedoch, wie Patienten ihre Fatigue wahrnehmen, und wie sie dadurch eingeschränkt sind.

Prof. Kappos: Medikamente wie 4-Aminopyridin, die bei motorischer Fatigue einen symptomatischen Effekt zeigen können, wirken über eine erleichterte Erregungsübertragung. Allerdings ist kein Medikament für diese Indikation zugelassen. Bei entsprechendem Leidensdruck kann eine probatorische Therapie erfolgen. Allgemeine Massnahmen wie das Haushalten mit den Kräften, eine gut durchdachte Tagesstruktur, mit Einhaltung von Ruhepausen, haben sich auf jeden Fall bewährt.

Besten Dank für das Gespräch!