Medical Tribune
19. Nov. 2023Was Kinderärzte tun können

Flüchtlingskinder: «Eine PTBS hat viele Gesichter»

Mit dem erneuten Flüchtlingsstrom kommen überdurchschnittlich viele unbegleitete minderjährige Asylsuchende in die Schweiz. Viele sind traumatisiert und gesundheitlich in einem schlechten Zustand. Dr. Matthias Luther von den Universitären Psychiatrischen Kliniken Basel (UPKKJ) erläutert, wie Kinderärzte Flüchtlingskinder am besten unterstützen können.

Flüchtlingskinder sind vulnerable Patienten, die besonderer ärztlicher Fürsorge bedürfen.
nsit0108/stock.adobe.com

Seit 2021/22 wird in der Schweiz wieder ein Anstieg der einwandernden Migranten registriert. «Viele kommen aus Afghanistan und erzählen, dass unter dem Taliban-Regime mindestens ein Familienmitglied umgebracht wurde und sie unter Lebensgefahr gelitten hätten», erklärt Dr. Matthias Luther, Leitender Arzt Zentrum für Liaison und aufsuchende Hilfen der Klinik für Kinder und Jugendliche universitäre Psychiatrische Kliniken Basel (UPKKJ) (1).

Die UPKKJ betreuen mit Partnern Flüchtlingskinder in mehreren Basler Heimen und seit April 2022 auch im Rahmen einer Sprechstunde im Bundesasylzentrum.

Sogar überdurchschnittlich zugenommen hat dabei die Anzahl der unbegleiteten minderjährigen Asylsuchenden (UMA). Ihr Anteil hat sich zwischen 2020 und 2022 verfünffacht. «Diese Flüchtlingskinder leiden an Schlafstörungen, starker Traurigkeit, Ängsten, Suizidalität und Dissoziationen», sagt der Referent. Eine der häufigsten Verdachtsdiagnosen ist die posttraumatische Belastungsstörung (PTBS).

Jeder reagiert anders

Im ICD-11 ist ein Trauma definiert als Konfrontation mit einem Ereignis oder einer Situation, die bedrohlich oder schrecklich ist. «Zentral ist aber auch die persönliche akute Reaktion und die Folgen auf das Ereignis», erläuterte der Referent. Unterschieden wird zudem zwischen einfacher und wiederholter Traumatisierung – einfacher und komplexer PTBS.

Die Kardinalsymptome einer PTBS sind

  • Wiedererleben
  • Vermeidung
  • Überregung, und
  • Anspannung.

Insbesondere bei einem schweren Trauma kommen weitere Symptome hinzu, so etwa Störungen in den Bereichen Bindung, Emotions- und Verhaltensregulation, Kognition, Biologie, Dissoziation, Selbstkonzept. Zu den schwersten Traumata führen wiederholte, von Menschen verursachte Ereignisse wie Vergewaltigung, Folter, Tötung.

«Eine PTBS hat viele Gesichter. Jeder reagiert anders», erklärt Dr. Luther. Den Betroffenen sagt er deshalb, ihre Reaktion sei normal, auf eine abnormale Situation. Das hilft den Traumatisierten oft schon etwas. Denn die Psychoedukation ist schon ein wichtiger Therapiepfeiler bei einer PTBS.

Flüchtlingskinder sind oft nicht geimpft

Wenn traumatisierte Flüchtlingskinder in die Schweiz kommen, geht es aber in erster Linie nicht um Traumatherapie, sondern darum, die einfachen Grundbedürfnisse – Essen, Trinken und ein Dach über den Kopf – zu befriedigen. Erst später, wenn die Flüchtlinge zur Ruhe gekommen sind, kommen schrittweise Massnahmen hinzu, wie soziale Integration und Schuleintritt, Unterstützung durch Nichtexperten (z.B. Vermittlung von Stressmanagementtechniken) sowie auf letzter Stufe psychotherapeutische Hilfe und andere Experteninterventionen.

Die Kinderärzte sind aber von Anfang an gefordert. Sie kümmern sich bereits bei der Ankunft der Flüchtlinge niederschwellig um die medizinische Basisversorgung.

«Viele unbegleitete minderjährige Flüchtlinge sind in einem schlechten Zustand», erklärt Dr. Luther. Sie haben Schlimmes erlebt, einige wurden auf ihrer Flucht von Grenzwächtern zusammengeschlagen und verletzt liegengelassen. «Viele haben auch Infektionskrankheiten wie Diphterie oder Tuberkulose und es fehlen ihnen sämtliche Schutzimpfungen», so der Referent.

Auch Spezialuntersuchungen sind hilfreich. «Wenn ein Flüchtlingskind fünfzehnmal pro Tag dissoziiert, ist eine neurologische Abklärung sinnvoll, da die Ursache auch ein Schädelhirntrauma sein kann», betont der Experte. Wichtig sei, dass vorhandene Angehörige von Kindern bei den medizinischen Untersuchungen dabei sein können.

Medikation und Selbstfürsorge

Zur medizinischen Grundversorgung gehört auch eine Medikation. Bei Schlafstörungen kann laut Dr. Luther zum Beispiel ein pflanzliches Kombinationspräparat mit Hopfen und Baldrian hilfreich sein, bei zusätzlich depressiven Symptomen auch Mirtazapin. Bei Schlafstörungen und Anspannungszuständen sind Antipsychotika wie Chlorprothixen, Levomepromazin oder Quetiapin angezeigt, bei allgemeiner Unruhe und Anspannung pflanzliche Mittel mit Pestwurz, Passionsblume Baldrian, Melisse oder Chlorprothixen.

Sertralin oder auch ein anderes SSRI setzt der Psychiater gelegentlich bei Jugendlichen mit einer PTBS erst ein, wenn sie schon länger in Behandlung sind.

«Keinesfalls vernachlässigt werden darf die Selbstfürsorge», betonte Dr. Luther. Denn die Betreuung von traumatisierten Flüchtlingen sei sehr belastend und könne sich, ohne eine gute Selbstfürsorge, auf Betreuer und Behandler auswirken.