Medical Tribune
9. Nov. 2021Stillen ist Herzenssache

Gerade adipöse Frauen sollten die Brust geben

Muttermilch ist nicht nur gesund für die Kinder – auch für die Mütter reduzieren sich dadurch gesundheitliche Risiken, wenn sie nicht allzu früh zur Flaschennahrung greifen. Denn Stillen kann das Adipositasrisiko und weitere metabolische Risikofaktoren reduzieren.

Baby eating mother’s milk. Mother breastfeeding baby.
iStock/NataliaDeriabina

Dass bei stillenden Müttern die Gewichtsreduktion nach der Schwangerschaft weniger Mühe bereitet und das in der Schwangerschaft angelegte Hüftfett schneller schmilzt, ist schon seit den 1950er-Jahren bekannt, sagte Professor Dr. Michael Abou-Dakn von der Klinik für Gynäkologie und Geburtshilfe am St.-Joseph-Krankenhaus in Berlin. Nicht umsonst wurden diese Fettdepots auch «Stillfett» genannt.

Frauen verbrennen bis zu 2000 kcal pro Tag

In einer neueren Studie konnten Forschende ebenfalls zeigen, dass Frauen nach drei- bis sechsmonatigem ausschliesslichen Stillen stärker Gewicht abbauen, auch wenn der Unterschied nicht riesig ist. Das könnte daran liegen, dass der Effekt bei stark übergewichtigen Frauen geringer ausfällt, meinte der Gynäkologe. «Auf jeden Fall hat man mit der Aussicht auf eine schnellere Gewichtsabnahme eine sehr schöne Motivationshilfe für eine längere Stillzeit», betonte der Referent.

Das Stillen kann nicht nur 500– 2000 kcal am Tag verbrennen, sondern auch viele andere metabolische Faktoren positiv beeinflussen, etwa Leptin oder Insulin. Man könne daher davon ausgehen, dass unterm Strich das kardiovaskuläre Risiko der stillenden Mütter reduziert wird. Ebenso vermindert sich das Lebenszeitrisiko der Mutter für einen Typ-2-Diabetes durch längeres Stillen. Leider stillen gerade stark übergewichtige Frauen deutlich seltener und kürzer. Dies kann viele Ursachen haben: Durch höhere Progesteronspiegel im Fettgewebe bei einem BMI von mehr als 30 kg/m2 wird die Prolaktinbildung erschwert, die benötigt wird, um die Brust auf das Stillen vorzubereiten. Auch Insulinresistenz, Leptin- und Adiponektinveränderungen schränken die Prolaktinbildung ein und verzögern dadurch die Laktogenese. Die Grösse der Brust kann das «Andocken» des Säuglings erschweren.

Hinzu kommen psychologische Aspekte: «Wir wissen, dass Frauen, die unzufrieden mit ihrer Körpersilhouette sind, nicht so gern stillen – vor allem in der Öffentlichkeit», erklärte Prof. Abou-Dakn. Adipöse Frauen hätten zudem häufiger Wochenbettdepressionen, die ebenfalls mit geringeren Stillraten einhergehen. Hebammen und Geburtshelfer sollten alles tun, um gerade diese Frauen zum Stillen zu motivieren.

Dies sollte möglichst schon vor der Geburt passieren, da das nach einer Untersuchung bei Schwangeren mit Diabetes den höchsten positiven Einfluss auf das Stillverhalten hat. Auch praktische Hilfestellungen beim Stillen mit Tipps und Tricks sind bei übergewichtigen Müttern besonders wichtig.

Stillen senkt das kindliche Adipositasrisiko

Auch auf die Kinder wirkt sich das Stillen natürlich positiv aus. Wenn die Kinder länger als drei Monate ausschliesslich gestillt werden, ist ihr Risiko für Übergewicht in der Kindheit deutlich reduziert – das gilt insbesondere bei Müttern mit einem BMI über 30 kg/m2. Im Erwachsenenalter zeigt sich noch ein deutlicher Zusammenhang zwischen dem Adipositasrisiko und einer unter sechsmonatigen Stilldauer. «Durch das längere Stillen kommt es offensichtlich zu epigenetischen Veränderungen der appetitanregenden Gene», betonte Prof. Abou-Dakn. So haben Forschende erkannt, dass voll gestillte Kinder im Alter von einem Jahr eine Herunterregulierung von RXRA (Retinoid X Receptor alpha) und eine Hochregulation von Leptin aufweisen.

Während der Covid-19-Pandemie sei die Stillquote weltweit etwas zurückgegangen – möglicherweise durch die Sorge, das Kind mit SARS-CoV-2 zu infizieren. Dabei sei dies nicht der Fall. Über die Muttermilch komme es nicht zur Infektion, es würden allenfalls RNA-Bruchstücke und keine vermehrungsfähigen Viren übertragen, sagte der Gynäkologe.

Auch eine anstehende Coronaimpfung der Mutter müsse nicht unbedingt ein Grund sein, das Stillen zu unterbrechen oder hinauszuzögern.

55. Kongress der Deutschen Diabetes Gesellschaft (DDG) – Online-Veranstaltung