Medical Tribune
30. Mai 2023Primärprävention bei Säuglingen

Wie mehr Dreck Allergien verhindert

Was wappnet Säuglinge gegen das spätere Auftreten von Allergien? Je mehr frühe Allergene, desto besser für die Toleranzentwicklung, rät Prof. Dr. Matthias Kopp, Inselspital Bern. Frühere Präventionsmassnahmen wie Vitamin- oder Probiotikagaben haben sich hingegen nicht bewährt. Medizinern empfiehlt er ausserdem, stärker gegen Luftschadstoffe einzutreten.

Ein oder mehrere Hunde schützen vor Allergien.
FatCamera/gettyimages

Ein oder mehrere Hunde schützen vor Allergien.

Für Prof. Dr. Matthias Kopp, Ärztlicher Leiter Medizinbereich Kinder und Jugendliche am Inselspital Bern, hat Primärprävention von Allergien auch eine starke politische Komponente (1).

«Die Empfehlungen, die Exposition von Kindern und Schwangeren gegenüber KFZ-bedingten Emissionen und Passivrauch möglichst gering zu halten, sind eigentlich ziemlich klar. Aber gegen die am besten belegten Risikofaktoren für die kindliche Lungenfunktion tun wir in unserem Alltag eigentlich am wenigsten.» Er appelliert daher an Pädiater und Allergologen, ihre Stimme stärker zu erheben – etwa für mehr Möglichkeiten zur Entwöhnung für Raucher.

Probiotika verringern Allergierisiko nicht

In der Pädiatrie hat sich das Bild von der Allergieprophylaxe in den letzten Jahren grundlegend gewandelt, so der Experte. Das betrifft unter anderem die Gabe von Nahrungsergänzungsmitteln wie Vitamin D, Omega-3-Fettsäuren oder Probiotika. Von diesen war man lange überzeugt, dass sie dem sich entwickelnden Immunsystem auf die Sprünge helfen würden.

Mittlerweile deuten jedoch die Auswertungen grosser randomisierter Studien darauf hin, dass dem nicht so ist. So zeigte die grösste Metaanalyse, dass die Gabe von Probiotika und Präbiotika im Kleinkindalter keine Schutzwirkung gegen die atopische Dermatitis hat (2). «Darüber hinaus führte die frühe präventive Gabe von Probiotika sogar zu einem unerwünschten Effekt. Sie erhöhte das Risiko für eine allergische Rhinitis bei Kindern im Schulalter.»

Auch hochdosierte Vitamin-D-Gaben in der Schwangerschaft beeinflussten in Untersuchungen das Risiko von Asthma, Rhinitis oder der atopischen Dermatitis nicht (3). Und auch die Gabe von langkettigen ungesättigten Omega-3-Fettsäuren (LCPUFA) aus Fischöl in der Schwangerschaft zeitigte nur bei jenen Kindern einen Schutzeffekt gegen Asthma und Wheezing, bei denen die Omega-3-Säuren-Serumspiegel der Mütter während der Schwangerschaft nachweislich erniedrigt waren (4).

Bei der Studie zu Omega-3-Fettsäure-Supplementierung in der Schwangerschaft gab es kürzlich ein Update, das zeigte, dass besonders nicht-atopisch bedingte Asthmafälle bei Kindern von Schwangeren, die Fischölkapseln einnahmen, reduziert waren.

Die deutschen, Schweizer und europäischen Leitlinien zur Allergieprävention empfehlen daher zurzeit klar keine präventive Einnahme von Nahrungsergänzungsmitteln (5-7).

Immuntoleranz entsteht im ersten Lebenshalbjahr

Ganz grundsätzlich habe sich das «allergologische Weltbild» in den vergangenen Jahren fundamental gewandelt, so Prof. Kopp. «Früher propagierte man, dass der Allergenkontakt von Kindern mit hoher Atopieneigung so lange wie möglich hinausgezögert werden sollte. Mittlerweile haben wir aber eher einen Toleranz-zentrierten Blick auf die Allergieprävention.» Dabei nimmt man an, dass ein rechtzeitiger Kontakt des Immunsystems mit potenziellen Allergenen sogar notwendig ist. Denn nur dadurch kann eine Balance zwischen den Allergie verursachenden Typ-2-Immunantworten und ihren Gegenspielern, den Typ-1-Immunantworten, entstehen.

Tatsächlich deutet viel darauf hin, dass es sinnvoll ist, Säuglinge in einer bestimmten Entwicklungszeit mit vielen möglichen Allergenen in Kontakt kommen zu lassen, um eine Toleranz gegen sie zu entwickeln. «Dieses Zeitfenster geht nach heutigem Wissen um den Zeitpunkt der Geburt auf, und schliesst sich dann zwischen dem sechsten und dem siebten Lebensmonat wieder.»

Das zeigten unter anderem die in Bayern, Österreich und der Schweiz durchgeführten Bauernhof-Studien. Sie wiesen nach, dass Kinder, die im ersten Lebensjahr auf einem Bauernhof aufwuchsen, und Kontakt zu Stalltieren hatten, später seltener an Asthma erkrankten oder eine allergische Sensibilisierung aufwiesen (8). Im Gegenzug konnte man zeigen, dass eine Verringerung der Keimlast beim Säugling, etwa durch Antibiotika-Gaben in den ersten sechs Lebensmonaten (9) oder eine Geburt per Kaiserschnitt (10) das Risiko für spätere allergische Erkrankungen erhöhte.

Hunde schützen vor Allergie, Milben-Encasing nicht

Prof. Kopp betont jedoch, dass diese Studien zwar viel über die Allergieentstehung aussagen, ihre Praxisrelevanz aber eingeschränkt ist. «Denn ob ein Kind per Kaiserschnitt geboren wird oder in den ersten Lebensmonaten ein Antibiotikum benötigt, ist nur schwer zu beeinflussen.»

Beeinflussen könne man hingegen unter anderem die Allergenexposition im normalen Lebensumfeld von Kindern, so Prof. Kopp. Penible Sauberkeit in einem Haushalt mit Babys und Kleinkindern empfehlen Exüerten jedenfalls aus allergiepräventiver Sicht eindeutig nicht mehr.

Abgekommen ist man auch etwa davon, Frühinterventionen gegen Allergien, wie eine Hausstaubmilben-Prophylaxe vorzunehmen. Dabei waren solche Massnahmen wie das Encasing der Bettwäsche waren vor rund 20 Jahren durchaus noch gängig.

Und auch die früher oft ausgesprochene Empfehlung an Risikofamilien, möglichst keine Haustiere zu halten, ist nun grundlegend überholt. Stattdessen weiss man mittlerweile aus diversen epidemiologischen Studien, dass sich das Halten eines – besser sogar mehrerer – vor Entwicklung von Allergien und Asthma schützt. In Bezug auf die Katzenhaltung ist die Datenlage derzeit noch widersprüchlich. «Der Konsens lautet im Moment so, dass sich Familien mit einem Kind mit Neurodermitis keine Katze neu anschaffen sollten.»

Die «heimliche Flasche» – wenn dann weiterführen!

Das Wissen um die Toleranzentwicklung in den ersten Lebensmonaten hat sich auch auf die Empfehlungen zur Säuglingsernährung ausgewirkt. Neu ist in den deutschsprachigen und europäischen Leitlinien etwa, dass Kindern von Müttern mit Stillwunsch in den ersten Lebenstagen keine Kuhmilch-basierten Säuglingsanfangsnahrungen verabreicht werden sollten (6,7).

Grundlage für die Neuerung war eine japanische Studie, die zeigte, dass Säuglinge, die zusätzlich zur Muttermilch eine Kuhmilch-basierte Formulierung erhielten, später mehr Kuhmilch-Allergien hatten als Kinder, die mit einer Aminosäure-basierten Anfangsmilch zugefüttert worden waren (11).

Reicht die Muttermilch also in seltenen Fällen nicht aus, sollte anders als mit Kuhmilch-Produkten zugefüttert werden, so der Experte. Möglich wäre dies etwa über Spenderinnenmilch, eine Aminosäure-basierte oder hydrolysierte Formula, oder über eine Nährlösung. «Haben Säuglinge in den ersten Lebenstagen aber bereits eine Kuhmilch-basierte Säuglingsnahrung zusätzlich zur Muttermilch erhalten, sollte dies ständig weitergeführt werden», so Prof. Kopp. Denn nur so kann die Toleranz gegen Allergene in der Kuhmilch aufrechterhalten werden.

Ab dem sechsten Monat verbackenes Hühnerei verfüttern

Auch die Beikosteinführung hat sich im «Toleranz-zentrischen Weltbild» wesentlich geändert. Dabei gilt nun, dass die Allergen-Einführung eher früher als später vonstatten gehen sollte. Das zeigt sich etwa daran, dass Kinder mit erhöhtem Allergierisiko, die früh Ei in verbackener Form erhalten hatten, gegen eine Hühnerei-Allergie deutlich geschützt waren (12). Empfohlen wird die Gabe von verkochtem oder verbackenen Hühnerei daher mittlerweile für alle Kinder ab dem sechsten Lebensmonat. «Bei rohem oder halbgarem Ei, wie beim Spiegelei gab es diesen Effekt hingegen nicht.» Nur einer der Gründe also, warum Säuglinge nur durchgegartes Ei erhalten sollten.

Dass es Kinder gibt, die mit sechs Monaten bereits Anzeichen einer Hühnerei-Allergie aufweisen, ist für den Experten keine Überraschung. Denn Säuglinge haben in einem Haushalt, in dem gekocht und gegessen wird, genügend Möglichkeiten, sich gegen Nahrungsmittelallergene zu sensibilisieren. «Studien zeigen, dass zwei Stunden nach der Zubereitung von Mahlzeiten Allergene aus den Lebensmitteln in der Küche, den Wohnräumen und in den Schlafstätten nachweisbar waren.»