Medical Tribune
16. Nov. 2022Case-Finding statt Screening

Kognitive Störungen: wann es die Memory Clinic braucht

Wenn Patienten subjektiv eine Abnahme ihrer kognitiven Leistungsfähigkeit bemerken, sich darüber Sorgen machen und den Arzt aufsuchen, muss das Problem ernst genommen werden. Doch wie gehen Allgemeinpraktiker in dieser Situation am besten vor? Die Antwort lieferte Dr. Patrica Lanz, Oberärztin Memory Clinic, Stadtspital Zürich-Waid, in einem Vortrag anlässlich der Medidays.

Bemerken Patienten eine Abnahme der kognitiven Leistungsfähigkeit, sollte der Hausarzt das ernst nehmen.
RamCreativ/gettyimages

«Bei kognitiven Störungen gilt es Begrifflichkeiten auseinanderzuhalten», sagt Dr. Lanz. So bezeichnet Demenz ein heterogenes klinisches Syndrom aus kognitiven Defiziten, die funktionell und/oder sozial beeinträchtigend wirken.

Eine neurodegenerative Störung liegt vor, wenn die Hirnfunktion in mindestens einer kognitive Domäne – Lernen und Gedächtnis, komplexe Aufmerksamkeit, exekutive Funktionen, Sprache, perzeptive-motorische Fähigkeiten, soziale Kognition – reduziert ist.

Von ihr abzugrenzen ist laut DSM-5 die kognitive Beeinträchtigung. Sie bezeichnet Probleme mit der Hirnleistung, die im Zusammenhang mit einer floriden psychischen Erkrankung, Depression oder Alkoholsucht stehen.

Eine Demenz kann mit und ohne Verhaltenssymptome vorliegen. Auch kann jederzeit ein Delir auftreten. «Wichtig aber ist: Zum Zeitpunkt der Diagnosestellung darf kein Delir bestehen», betonte die Expertin.

Bei Verdacht Patienten eine Abklärung anbieten

Die häufigste Demenz ist die Alzheimer-Erkrankung, gefolgt von der gemischten und der vaskulären Demenz. Diese Formen betreffen drei Viertel aller Fälle.

Für die Diagnostik empfehlen die Swiss Memory Clinics (1) kein generelles Screening, sondern ein Case-Finding durchzuführen. Das bedeutet: Sobald Verhaltensauffälligkeiten oder Verdachtsmomente bestehen, sollte den Patienten eine Abklärung angeboten werden.

Ein Hinweis kann etwa ein Delir sein oder wenn ein Patient in der Praxis auffällt, etwa weil er sich nicht mehr gut pflegt, Termine nicht mehr einhält oder die Arztrechnungen nicht mehr pünktlich bezahlt. Auch eine vom Patienten wahrgenommene subjektive kognitive Abnahme stellt ein Risikofaktor für eine demenzielle Entwicklung dar. «Berichtet also eine Patient über eine Subjective Cognitivve Decline, die ihn Sorgen bereitet, ist das Problem ernst zu nehmen», betont Dr. Lanz.

Eine frühe Diagnose ist aus therapeutischen Gründen wichtig und erlaubt, Sicherheitsaspekte zu klären. Wie etwa kann der Patient noch Autofahren, die Enkelkinder hüten und seine Medikamente korrekt einnehmen? «Sie hilft auch, sekundäre Ursachen aufzuspüren, wie eine psychische Erkrankung, eine Hyperthyreose oder ein Vitamin-B12-Mangel, und ermöglicht es dem Patienten, die Lebensplanung noch an die Hand zu nehmen, solange er urteilsfähig ist», so die Referentin.

Die Abklärung von kognitiven Störungen in der Hausarztpraxis sollte laut Dr. Lanz Anamnese, Status, Labor sowie ein Assessment (MoCa, MMS, Uhrentest, Trail Making Test A + B) beinhalten. Eine Bildgebung braucht es nicht in jedem Fall.

Die ganze Familie ist betroffen

«Eine Überweisung in eine Memory Clinic ist angebracht bei rasch progredienten Verläufen, atypischen Symptomen, jungen Patienten, die sich auf dem Pfad zur IV befinden, bei unklarer Fahreignung, zur Bestätigung einer unsicheren Diagnose oder auch, wenn jemand eine Diagnostik wünscht», erklärte die Expertin.

Kein Überweisungsgrund ist indes die Indikationsstellung für einen Acetycholinesterasehemmer.
Für das Diagnosegespräch empfiehlt es sich, die engsten Angehörigen beizuziehen, offen über Demenz zu sprechen und auch Emotionen zuzulassen. Hilfreich in diesem Setting ist das SPIKE-Protokoll aus der Onkologie.

«Eine Demenz betrifft immer die ganze Familie», betont Dr. Lanz. Ungefähr die Hälfte der Demenz-Patienten lebt zuhause und wird von Angehörigen betreut. Diese «informal Caregiver» pflegen Partner/Partnerin oder Vater/Mutter im Schnitt über fünf bis sechs Jahre, oftmals unentgeltlich, mit grossen Aufwand und unter grosser psychischer und finanzieller Belastung.

«Sie müssen mitbetreut und auch über die Möglichkeit von Entlastungsangeboten, wie sie etwa die Alzheimervereinigung oder Pro Senectute anbieten, orientiert werden», fordert die Referentin.

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