Medical Tribune
10. Juli 2020Röntgendiagnostik in der Arztpraxis

Neue Hilfestellungen durch Teleradiologie und KI

In tausenden unserer Schweizerischen Arztpraxen werden pro Jahr an die zehn Millionen Röntgenuntersuchungen angefertigt und befundet. Gerade weil die Röntgendiagnostik einen erheblichen Stellenwert in der Patientenbehandlung hat, wird die Frage gestellt, ob durch die teleradiologisch übermittelte fachärztliche Meinung und den Einsatz der Künstlichen Intelligenz eine diagnostische Hilfestellung angeboten werden kann.

Röntgenbild von der Lunge
istock.com_utah778

Aus Sicht der bildgebenden Diagnostiker haben die Schweizerischen Berufsgruppen der Praktischen Ärzte, der Allgemeinen Inneren Medizin, der Kinder- und Jugendmedizin, der Medizinischen Onkologie, der Neurologie und der Rheumatologie einen besonderen Stellenwert: die Befähigung zur Rechtfertigung, Durchführung und Befundung konventioneller Röntgenaufnahmen im Niedrigdosis- und – mit entsprechendem Weiterbildungstitel – im mittleren Dosisbereich. Dadurch eröffnet sich die Welt der Thorax- und Extremitätenradiologie, der Abdomen-, Becken-, Hüftgelenk- und Wirbelsäulenradiologie. Allerdings ergibt sich mit der Durchführung der Untersuche auch die Pflicht, die Diagnostik einer Vielzahl an Subspezialisierungen zu beherrschen. Diese schliessen die Thoraxradiologie, die Abdominalradiologie, Neuroradiologie und die Muskuloskelettalradiologie ein.

Für die Erforschung und Weiterbildung jedes einzelnen dieser Bereiche hat sich die Fachgruppe der Radiologie über Jahrzehnte in dezidierte Bereiche organisiert, sowohl auf nationaler aus auch auf internationaler Ebene. Während die Qualitätskontrolle der Durchführung der Radiografien in Arztpraxen hinsichtlich Einstelltechnik und Strahlendosisverabreichung durch Kontrollen und Fortbildungen des Bundesamts für Gesundheit (BAG) und privaten Organisationen manifest ist, ist die Kontrolle der Befunddiagnostik der Röntgenaufnahmen nicht vorgesehen und von den berechtigten Berufsgruppen möglicherweise mehrheitlich nicht erwünscht.

Eine der komplexesten Untersuchungen

Die Thoraxradiografie gehört zu den häufigsten radiologischen Untersuchungen überhaupt und sie stellt auch eine wesentliche bildgebende First-line-Modalität in Arztpraxen dar. Parallel zu ihrer Abundanz stellt sie auch hohe Anforderungen an den Diagnostiker hinsichtlich der Vielzahl an Pathologien der Lunge, der Gefässe, des Herzens und des Stammskeletts und gelegentlich des Oberbauchs.

Mehrere wissenschaftliche Studien befassten sich mit der Genauigkeit der Diagnostik der Thoraxradiografie durch Allgemeinmediziner und Notfallärzte. Etwa war die Sensitivität der Detektion thorakaler Pathologien bei Patienten zwischen 16 und 98 Jahren nicht höher als 20 bis 64,9 %, gemessen an Radiologen.1 In einer weiteren Studie von 667 Thoraxradiografien von Patienten zwischen 14 und 84 Jahren war die Übereinstimmung zwischen Notfallarzt und Radiologen in der Erkennung eines normalen Befunds 84,3 %, einer kardialen Dekompensation 41,4 % und einer Pneumonie ebenso 41,4 %.2 Diese erschreckenden diagnostischen Mängel lagen wohlgemerkt bereits bei Notfallärzten vor, welche in ihrer täglichen Berufsausübung ein hohes Volumen an Röntgenbildern zu interpretieren haben.

Eine im Jahr 2020 publizierte Studie untersuchte an Allgemeinmedizinern in Pretoria und Johannesburg, Südafrika, die Thoraxröntgen aufgrund des Facharztmangels an Radiologen in Spitälern selbst befunden müssen, dass der diagnostische Zugang und Algorithmus zur Diagnostik der Bilddaten unsystematisch ist und zu Fehldiagnosen führt.3 Es ist davon auszugehen, dass sich diese wissenschaftlichen Ergebnisse wohl auch partiell in der Diagnostik der Abdominal-, Neuro- und Muskuloskelettalradiologie reproduzieren lassen.

Hilfestellung für Arztpraxen online und in Echtzeit

Während die teleradiologische Diagnostik in der Schweiz zur Abdeckung der Pikettdienste für Spitäler bereits seit mehreren Jahren verfügbar ist, gibt es seit etwa einem Jahr die teleradiologische Hilfestellung für Arztpraxen. Sobald die Interpretation kniffliger Bilder ansteht oder eine fachärztliche radiologische Meinung erwünscht ist, springt eine im Kanton Zug ansässige teleradiologische Institution namens Academic Health in Echtzeit ein.
Die Institution beschäftigt eine grosse, beständige Gruppe an MEBEKO-approbierten Fachärztinnen und Fachärzten für Radiologie mit der Spezialisierung in den wichtigsten Disziplinen wie der Unfall- und Notfallradiologie, der Thorax- und Abdomen-, der Neuro- und Muskuloskelettalradiologie. Die Bilddaten werden von den Arztpraxen durch eine hochsichere und hochverfügbare Technologie DSGVO-konform an Academic Health übertragen. Die Befunde werden auf demselben Weg, auf Wunsch bereits innert einer Stunde schriftlich, retourniert.

Diese speditive Zusammenarbeit hat sich schon im ersten Halbjahr 2020 während der viralen Pandemie für die an das teleradiologische Netzwerk angeschlossenen Arztpraxen bezahlt gemacht: Die fachärztliche Auskunft über das Vorliegen oder das Fehlen von Zeichen einer Pneumonie trug zur sicheren Diagnostik für eine Vielzahl von Patienten bei. Academic Health stellt als Neuheit auch ein hochsicheres, verschlüsseltes Upload-Portal zur Verfügung. Dieses können alle Ärzte ohne Vertragsbindung nutzen, um radiologische Bilder online zur Befundung zu senden, egal wann und wie viele.

Künstliche Intelligenz: Fluch oder Hilfe?

Die Künstliche Intelligenz (AI) hat sich während der letzten Jahre als eine fixe Grösse in den Arbeitsabläufen vieler Branchen etabliert. In der Medizin wird AI seit mehr als zehn Jahren wissenschaftlich erforscht. Einzelne Meinungsbildner gehen sogar davon aus, dass in technikaffinen medizinischen Fächern, wie etwa der Radiologie, Ärzte von Software-Algorithmen abgelöst würden. Obwohl mit hoher Geschwindigkeit neue und immer umfassendere AI den Sprung von der wissenschaftlichen Entwicklung auf den Markt schaffen, greift diese Prophezeiung aus heutiger Sicht wohl etwas zu hoch. Vielmehr ist aus medizinischer Sicht auch wünschenswert, dass in der Medizin der Zukunft weiterhin Ärzte die Kontrolle über die Maschinen besitzen. Ärzte sollen nicht ersetzt werden, die Verantwortung für Patienten soll nicht autonomen Computeralgorithmen überlassen werden.

Allerdings ist es wünschenswert, dass Radiologen durch AI eine sinnvolle Unterstützung in ihrer täglichen Arbeit erhalten. Beispielsweise deuten wissenschaftliche Studien darauf hin, dass Deep-Learning-Programme mit mehreren Lernebenen, sogenannte Deep Convolutional Neuronal Networks, die radiologische Diagnostik in der Detektion von malignen Lungenrundherden in Thoraxradiografien verbessert.4 Eine AI war in der Detektion von viralen Covid-19-Lungenentzündungen in Thoraxradiografien (s. Abb.) allen an der Studie beteiligten Fachärzten für Radiologie zumindest ebenbürtig.5

Der Konsequenz folgend, dass AI einen relevanten Impact auf die medizinische Dienstleistungserbringung haben wird, dass sie aber nicht ohne ärztliche Führung ablaufen soll, startet Radailogy am 1.10.2020 mit einer weltweit neuen Dienstleistung: Ärzte können bei Radailogy nicht nur die fachärztliche radiologische Diagnostik ihrer Thoraxradiografien anfordern, sondern auch, dass zusätzlich eine AI zur Befunderstellung verwendet werden soll. In der AI trainierte Fachärzte wählen die passende AI für die übermittelten Patientendaten aus, oder erstellen ihre Befunde mit der von den zuweisenden Ärzten ausgesuchten Wunsch-AI. Dasselbe gilt auch zur Detektion von Pathologien in der Muskuloskelettalradiologie und weitere Disziplinen der Radiologie. Radailogy bietet mit diesem Konzept eine sinnhafte Kombination aus spezialisiertem medizinischem Wissen und Resultaten der AI für die tägliche Praxis.

Die Röntgendiagnostik hat einen hohen Stellenwert

Zusammenfassend wird festgestellt, dass die Röntgendiagnostik in Arztpraxen einen hohen Stellenwert hat und dass eine fachärztliche radiologische Hilfestellung sinnvoll ist, wenn sie sicher, schnell und mit konstant hoher Qualität angeboten wird. Die AI ist bereits ein fixer Bestandteil in Arbeitsabläufen vieler Branchen. In der Medizin schaffen neue und immer umfassendere AI mit hoher Geschwindigkeit den Sprung von der wissenschaftlichen Entwicklung auf den Markt. Sinnvoll angewendet, bieten ausgewählte AI ebenso eine diagnostische Hilfestellung, unter der Voraussetzung, dass trainierte Fachärzte stets die Kontrolle und Führung in dieser neuen medizinischen Leistungserbringung haben.

Korrespondenzadresse

PD Dr. med. univ. Gerd Schueller MBA, Facharzt für Radiologie
Emergency Radiology Schueller
Sumpfstrasse 26
6302 Zug
Tel: 041 544 60 30
E-Mail: gerd@emergencyradiology.ch
Web:
www.emergencyradiology.ch
www.academic-health.ch
www.radailogy.ch

Interessensverbindungen

Der Autor ist Gründer und Eigentümer der medizinischen Institution Emergency Radiology Schueller mit den Divisionen ERS, Academic Health und Radailogy. Fremde finanzielle Mittel wurden nicht verwendet.

  1. Gatt ME, Spectre G, Paltiel O, Hiller N, Stalnikowicz R. Chest radiographs in the emergency department: is the radiologist really necessary? Postgrad Med J. 2003 Apr; 79: 214–217
  2. Al aseri Z. Accuracy of chest radiograph interpretation by emergency physicians. Emerg Radiol. 2009 Mar; 16: 111–114.
  3. Sethole KM, Rudman E, Hazell LJ. Methods Used by General Practitioners to Interpret Chest Radiographs at District Hospitals in the City of Tshwane, South Africa. J Med Imaging Radiat Sci. 2020 Feb 17 [Epub ahead of print]
  4. Sim Y, Chung MJ, Kotter E, Yune S, Kim M, Do S, Han K, Kim H, Yang S, Lee DJ, Choi BW. Deep Convolutional Neural Network-based Software Improves Radiologist Detection of Malignant Lung Nodules on Chest Radiographs. Radiology. 2020 Jan; 294: 199–209.
  5. Murphy K, Smits H, Knoops AJG, Korst MBJM, Samson T, Scholten ET, Schalekamp S, Schaefer-Prokop CM, Philipsen RHHM, Meijers A, Melendez J, van Ginneken B, Rutten M. COVID-19 on the Chest Radiograph: A Multi-Reader Evaluation of an AI System. Radiology. 2020 May 8 [Epub ahead of print] Abb: Aus: Murphy K, Smits H, Knoops A J.G., et al. COVID-19 on the chest radiograph: A multi-reader evaluation of an AI system. Radiology doi: 10.1148/radiol.2020201874. Published online May 8, 2020. © Radiological Society of North America.