Medical Tribune
29. Juni 2020Strategie gegen Nahrungsmittelallergien

Früh übt sich

Der Umgang mit Nahrungsmittelallergien hat sich grundlegend gewandelt. Früher galt das Meiden von Allergenen als der beste Schutz – heute setzt man auf eine Prophylaxe durch Gewöhnung. Schon Babys sollen mit Erdnuss- und Eierprodukten gefüttert werden.

«Lächelnder Junge, Löffel im Mund haltend. Auf Weiß isoliert. »
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Die Nahrungsmittelallergie galt lange Zeit als Störung des Kindesalters, die meist von selbst ausheilt. Doch inzwischen erkranken immer mehr Erwachsene, sogar ältere Menschen bleiben nicht verschont. Ausserdem haben die veränderten Essgewohnheiten in den vergangenen Jahren zu bisher unbekannten Allergiesyndromen geführt, ­schreiben Professor Dr. Massimo­ De Martinis­ von der Universität von L’Aquila und Kollegen. Die Sensibilisierung gegen Nahrungsmittel erfolgt meist oral, bei einer Barrierestörung (z.B. atopische Dermatitis) ist auch eine Sensibilisierung über die Haut möglich.

Inflammatorische Stimuli können Toleranz löschen

Die Toleranz gegenüber Nahrungsmittel-Antigenen wurde lange auf eine «Untätigkeit» (Anergie) des Immunsystems zurückgeführt. Inzwischen weiss man, dass es sich dabei um einen aktiven Prozess der Verträglichkeitsbildung handelt. Er wird durch die orale Exposition gegenüber Nahrungsmittel-Antigenen induziert und durch die Aufnahme von Immunkomplexen über die Muttermilch gefördert. Die Toleranz gegenüber Nahrungsmitteln entwickelt sich also bereits in der frühen Kindheit. Sie kann aber jederzeit z.B. durch inflammatorische Stimuli wieder gelöscht werden.

Das erklärt auch, warum Patienten mit atopischer Prädisposition zur Entwicklung von Nahrungsmittelallergien neigen. Infolge einer Störung des intestinalen Immunsystems entwickeln sie entweder gar keine Toleranz oder diese wird später durchbrochen, beispielsweise durch eine kutane Sensibilisierung.

Zum Einfluss von Umweltfaktoren und Darmflora auf die Manifestation von Nahrungsmittelall­ergien gibt es inzwischen diverse Hypothesen. Ein Risikofaktor könnte die immer geringere Exposition gegenüber Mikroorganismen sowie die verminderte Infektionsrate in der frühen Kindheit sein. Vermutet wird auch, dass der Hautkontakt mit Nahrungsmittelallergenen in einem Alter, in dem diese noch nicht alimentär zugeführt werden, die Sensibilisierung erleichtert.

Als kritische Periode für die Toleranzentwicklung gelten die ersten zwei Lebensjahre – in diesem Zeitraum (window of opportunity) wird festgelegt, wie anfällig ein Mensch für Allergien ist. Deshalb ist man inzwischen von der Vorstellung abgerückt, dass eine möglichst späte Einführung riskanter Nahrungsmittel vor einer Sensibilisierung schützt.

Ballaststoffhaltige Kost soll präventiv wirken

Offenbar ist genau das Gegenteil der Fall: Protektiv wirkt eine regelmäs­sige Allergenaufnahme ab der frühen Kindheit. Aus diesem Grund wird heute empfohlen, besonders gefährdete Kinder schon ab einem Alter von 4–6 Monaten mit erdnuss- und eihaltigen Nahrungsmitteln zu füttern, mit Kuhmilch sogar schon in den ersten zwei Lebenswochen. Auch die mütterliche Aufnahme häufiger Allergene, vor allem Kuhmilch und Erdnüsse, während der Schwangerschaft könnte protektiv wirken.

Eine weitere Hypothese besagt, dass eine veränderte Zusammensetzung des intestinalen Mikrobioms das Risiko für Nahrungsmittelallergien erhöht. Umgekehrt fördern bestimmte Bakterien die Reifung regulatorischer T-Lymphozyten (Treg) und erleichtern so die Entwicklung einer Toleranz. Der unkritische Einsatz von Antibiotika hingegen schränkt die natürliche Vielfalt der Darmbakterien ein und könnte so die Ausbildung von Allergien begüns­tigen. Umgekehrt soll eine ballaststoffhaltige Kost präventiv wirken. Auch dem Hautmikrobiom wird ein modulierender Effekt auf die Allergieneigung zugeschrieben: So geht man heute davon aus, dass die beim atopischen Ekzem häufig anzutreffende Kolonisierung mit Staph. aureus Sensibilisierungen begünstigt.

Eine spezifische Immuntherapie kann die Schwellendosis, ab der eine allergische Reaktion ausgelöst wird, erhöhen. So verleiht sie betroffenen Patienten einen gewissen Schutz vor den eventuell lebensbedrohlichen Folgen einer versehentlichen Ingestion. Die bes­te Wirkung lässt sich mit einer oralen Immuntherapie (OIT) erzielen, allerdings treten unter ihr auch die meisten Nebenwirkungen auf. Diese sind vor allem gastrointestinal. Derzeit wird die OIT für Kinder zwischen vier und fünf Jahren mit persistierender Allergie gegen Erdnüsse, Milch oder Eier empfohlen.

Antikörper als neuer Therapieansatz

Inzwischen gibt es auch Hinweise, dass modifizierte Nahrungsmittel die Rückbildung einer Allergie bei Kindern beschleunigen könnten. Dieses Konzept beruht auf der Beob­achtung, dass junge Patienten, die auf rohe Milch bzw. Eier sensibel reagieren, dieselben Nahrungsmittel in gebackenem Zustand meist vertragen, vermutlich weil das Erhitzen die Struktur der allergisierenden Epitope verändert. Eine kürzlich durchgeführte randomisierte Studie ergab, dass der Verzehr gebackener milchhaltiger Lebensmittel die Verträglichkeit roher Milch nach einem Jahr erhöht.

Einen neuen Therapieansatz bieten Antikörper wie Omalizumab und Dupilumab. Im Gegensatz zur OIT können sie die allergischen Symptome ganz ohne die Ingestion des «schuldigen» Nahrungsmittels bremsen. Auch Probiotika wie Lactobacillus rhamnosis GG könnten möglicherweise zu einer Toleranzinduktion beitragen.

De Martinis M et al. Int J Mol Sci 2020;
doi: 10.3390/ijms21041474