Kinder in der Isolation
Welchen Einfluss haben die Einschränkungen rund um die Covid-19-Pandemie auf Kinder mit ADHS? Über diese Thematik referierte Dr. Oliver Bilke-Hentsch, Chefarzt Kinder- und Jugendpsychiatrie, Luzerner Psychiatrie, an einem Webinar* von Medical Tribune.
Moderne Soziologen gehen davon aus, dass Themen wie Angst, Haltlosigkeit, Beschleunigung und Komplexität die Hauptprobleme der heutigen Gesellschaft darstellen, erklärte der Referent. Solche Aspekte können Patienten mit Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung (ADHS) nur ganz schwer bewältigen – und zu allem Überfluss kommt nun auch noch die Covid-19-Krise dazu.
Die European ADHD Guidelines Group weist in einer aktuellen Publikation darauf hin, dass Patienten mit neurologischen Entwicklungsstörungen wie ADHS besonders vulnerabel gegenüber den Einschränkungen aufgrund der Covid-19-Pandemie sind (1). Insbesondere für Adoleszente ist die Situation schwierig. Neben dem physischen Distanzhalten bereiten den Betroffenen die Desorganisation beim Homeschooling, das späte Aufstehen am Morgen und die Störungen im gewohnten Tagesablauf Probleme. Während solche Einflüsse auch für gesunde Kinder und Jugendliche ohnehin schon schwierig sind, verstärken sie sich bei ADHS-Patienten, sagte Dr. Bilke-Hentsch.
Erziehungsstile befinden sich im Wandel
Der Referent wies auf die Folgen und Risiken eines unbehandelten ADHS hin: dissoziales Verhalten, häufigere Unfälle, Karriere- und Schulprobleme, weniger Freunde, mehr Partnerprobleme und häufiger Drogenmissbrauch. «Das sind alles Faktoren, die durch eine gute Behandlung auf das gleiche Niveau gesenkt werden können wie bei Kindern und Jugendlichen ohne ADHS», sagte Dr. Bilke-Hentsch. 85 % der Patienten haben im Erwachsenenalter noch Restsymptome oder einen klaren weiteren Therapiebedarf. Der Referent macht sich deshalb dafür stark, die Behandlung von ADHS-Betroffenen mindestens bis zum Abschluss der Erstausbildung fortzusetzen. «Das gilt selbstverständlich auch in Corona-Zeiten», fügte er an.
In der heutigen Gesellschaft befinden sich Erziehungsstile im Wandel, Umgangsformen ändern sich und es gibt Eltern, die den drohenden Konflikten mit ihren Kindern aus dem Weg gehen. Der Laissez-faire-Erziehungsstil ist verbreiteter geworden. Einige Eltern sind nun während der Covid-19-Pandemie kaum mehr in der Lage, Erziehungsregeln durchzusetzen, wenn sie selbst im Homeoffice arbeiten und die Kinder per Homeschooling unterrichtet werden. Zudem macht sich in gewissen Familien die Abwesenheit einer Vaterfigur in der Erziehung bemerkbar.
Chancen und Risiken durch die Digitalisierung
Die zunehmende Digitalisierung bringt sowohl Chancen als auch Risiken mit sich. Viele Aktivitäten verlagern sich in den virtuellen Raum, wenn physische Treffen wie während der Covid-19-Pandemie nicht mehr oder nur unter erschwerten Umständen möglich sind. Während die Digitalisierung für die Allgemeinbevölkerung vor allem mit vielfältigen Chancen verbunden ist, bietet sie für psychisch Kranke wie ADHS-Patienten mehr Risiken. Auch wenn das erste iPhone 2007 eingeführt wurde und somit alle 13-jährigen und jüngeren Kindern seit ihrer Geburt damit aufgewachsen sind, darf nicht davon ausgegangen werden, dass alle von ihnen in der Lage sind, mit den damit verbundenen Gefahren wie Pädophilie, dem Umgang mit Fremden, Gewalt, Cyber-Bullying oder Glücksspiel umzugehen. Dies gilt insbesondere für ADHS-Patienten.
Dr. Bilke-Hentsch wies darauf hin, dass im Zuge der Therapie eines ADHS auf die Struktur und Motivation der Betroffenen eingegangen werden soll. In der Covid-19-Krise gewinnen beide Aspekte an Bedeutung – auch bei Gesunden. Es geht darum, den ADHS-Patienten die Fähigkeiten zur Regulierung, Differenzierung und Integration zu vermitteln. Momentan lautet die Frage nicht «Was beschäftigt das Kind oder den Jugendlichen?», sondern eher «Wie funktioniert es bzw. er in bestimmten Situationen?», so der Experte.
Differenzierte Therapie mit Medikamenten
Auch die Pharmakotherapie spielt eine wichtige Rolle während der Covid-19-Pandemie. Um eine differenzierte Behandlung zu ermöglichen, sollte man sich mit diversen Faktoren wie der Wirkdauer der Substanzen, der Präferenzen und der psychosexuellen Entwicklung des Patienten sowie der anstehenden schulischen Aufgaben befassen. «Wir müssen in dieser Situation sehr genau aufpassen, dass wir keine Drug-Holidays oder Erhöhungen der Dosis durchführen, falls diese nicht unbedingt nötig sind», warnte Dr. Bilke-Hentsch.
- *Sponsoren: Salmon Pharma GmbH, Neurim Pharmaceuticals AG
Referenzen
- Cortese S et al. ADHD management during the COVID-19 pandemic: guidance from the European ADHD Guidelines Group. Lancet Child Adolesc Health. 2020 Jun;4(6):412-414. doi: 10.1016/S2352-4642(20)30110-3.