Medical Tribune
10. Mai 2020Wie man mit Tics im Kindesalter richtig umgeht

In den meisten Fällen genügt eine umfassende Psychoedukation

Blinzeln, Schulterzucken, Grunzen oder Bellen – Tic-Störungen betreffen etwa jedes siebte Kind. Doch nur bei wenigen ist der Leidensdruck so hoch, dass sie eine Therapie brauchen. Meist genügt eine umfassende Psychoedukation, die das soziale Umfeld mit einschliesst.

Blauäugiges, 3 Jahre altes Mädchen im roten Kleid
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Als ihr Sohn im Primarschulalter anfing, ständig mit den Augen zu zwinkern und sich zu räuspern, fragte die Mutter einen Kinderarzt um Rat. «Das verwächst sich noch», war seine Antwort. Im Laufe der Zeit kamen Schulterzuckungen hinzu, die der mittlerweile 12-Jährige zwar für eine Weile unterdrücken konnte, es dafür aber irgendwann umso stärker «rauslassen» musste. Den Jungen belasteten die Geräusche und Zuckungen viel weniger als seine Mutter. Sie befürchtete die Entwicklung eines Tourette-Syndroms und eine damit verbundene soziale Ausgrenzung. Sie suchte deshalb erneut einen Pädiater auf. Der konnte sie nach wie vor beruhigen.

Äussere Faktoren beeinflussen die Ausprägung

Tics zählen mit einer Prävalenz von 15 % im Kindesalter zu den häufigsten psychiatrischen Störungen, schreiben Viktoria Höfflin von der Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie und -psychotherapie der TU Dresden und ihre Kollegen. Das Störungsbild äussert sich durch plötzlich einsetzende, unwillkürliche, nicht rhythmische Bewegungen oder Lautäusserungen ohne erkennbaren Zweck.

In der Regel beginnt es mit motorischen Tics, meist zuerst im Gesicht, die sich dann über die Schultern zu den Extremitäten ausbreiten. Nach 2–4 Jahren können sich vokale Tics dazugesellen. Qualität (motorisch/vokal), Komplexität (einfach/komplex), Intensität, Frequenz und Lokalisation der Tics unterliegen häufig einer wellenförmigen Fluktuation (6- bis 12-wöchige Phasen) ohne erkennbaren Grund. Man weiss aber, dass äussere Faktoren wie Stress, Übermüdung, emotionale Erregung oder Entspannung die Ausprägung positiv oder negativ beeinflussen. Mit zunehmendem Alter spüren viele Kinder ein Vorgefühl (z.B. Kribbeln im Bauch oder Druck im Kopf), wenn sich ein Tic ankündigt. Wie bei dem beschriebenen Jungen können ihn die Betroffenen eine Zeit lang unterdrücken oder bewusst in Willkürhandlungen einbauen.
In der Genese spielen vermutlich neben genetischen, neurobiologischen und psychologischen Faktoren auch Bakterien (Auto­immunreaktion nach Infektion mit beta-hämolysierenden Strep­tokokken) eine wichtige Rolle. Jungs sind häufiger betroffen. Etwa 15 % der Tics im Kindesalter verschwinden nach ein paar Wochen wieder. Störungen, die länger als ein Jahr andauern, erreichen meist zwischen dem 12. und 14. Lebensjahr ihren Höhepunkt und enden häufig nach der Pubertät wieder. In 3–4 % der Fälle gibt es einen chronischen Verlauf und nur 1 % entwickelt ein Tourette-Syndrom.

Psychiatrische Komborbiditäten behandeln

Die Diagnose wird in der Regel anhand einer ausführlichen Anamnese, die auch das nähere Umfeld mit einschliesst, und einer organischen Ausschlussdiagnostik (inkl. internistisch-neurologischer Untersuchung) gestellt. Als differenzialdiagnostisch bedeutsame Anamnese-Marker gelten:

  • Der Patient hat sensomotorische Vorgefühle (z.B. Muskelanspannung, Kribbelgefühl, Kitzeln, Stechen, Jucken­).
  • Ein Tic schwächt diese Gefühle ab oder lässt sie verschwinden.
  • Ein Tic lässt sich unterdrücken.
  • Nach längerem Unterdrücken nimmt die Symptomatik zu (Rebound-Phänomen).
  • Die Symptomatik lässt bei Konzentration (z.B. Ausführen willkürlicher Bewegungen) nach.
  • Die anatomische Lokalisa­tion wechselt.
  • Im Schlaf nehmen die Symptome ab oder sie verschwinden sogar.
  • Frequenz und Intensität schwanken im zeitlichen Verlauf.
  •  Es besteht eine «Suggestibilität» bis hin zu einer Echolalie/-praxie (unterhält man sich über «Zwinker-Tics», zwinkert der Patient vermehrt).

Therapeutisch hat die Behandlung der häufig vorliegenden psychiatrischen Komorbiditäten wie Zwangsstörungen (30–60 %), ADHS (50 %) oder emotionale Störungen (50 %) Priorität und verbessert häufig die Tic-Symptomatik. Ansonsten reicht in der Regel eine umfassende Psycho­edukation des Betroffenen und des Umfelds (inklusive Lehrpersonen­) aus.

Ist dennoch eine Therapie nötig, sollte die Indikation sehr streng gestellt werden und sich allein am Leidensdruck des Patienten (z.B. sozialer Rückzug, körperliche Beschwerden, Funktionseinschränkungen) orientieren – regelmäs­sige Kosten-Nutzen-Abwägung vorausgesetzt. Mögliche Behandlungskonzepte wie die symptomfokussierte Verhaltenstherapie (z.B. Reaktionsumkehr) oder Medikamente (z.B. Tiaprid) zielen darauf ab, die Beschwerden auf ein erträgliches Niveau zu reduzieren.

Tic oder Zwang?

Probleme kann die Unterscheidung zwischen Tics und Zwangsstörungen bereiten. Sie ist aber wichtig, da eine frühe Therapie von Zwängen eine Chronifizierung verhindern kann. Zwangshandlungen lassen sich daran erkennen, dass sie meist ritualisiert und zielgerichtet erfolgen. Das zielgerichtete Ausführen soll die meist mit der Störung assoziierte Angst mindern. Ein Tic dagegen reduziert eher die sensomotorischen Vorgefühle. Die Autoren raten daher, besonders auf begleitende Ängste zu achten.

Risikofaktoren für einen chronischen Verlauf

  • frühes Auftreten von Tics
  • familiäre Komponente (Tics, Zwänge, ADHS)
  • vokale und komplexe Tics
  • Komorbiditäten (hyperkinetische Störungen oder Zwänge)
  • aggressive Verhaltensweisen

Höfflin V et al. Monatsschrift Kinderheilkunde 2020; 168: 169–176.