Medical Tribune
6. Aug. 2023LONTS und FORTA helfen bei der Therapie

Chronische Schmerzen bei Senioren oft nicht adäquat behandelt

Mit zunehmendem Alter erhöht sich das Risiko für chronische Schmerzen. Insbesondere in Alters- und Pflegeheimen sind Schmerzpatienten jedoch unterversorgt. Wie man diesen Defiziten begegnen kann, erläutert Dr. Petra Hoederath, Fachärztin für Neurochirurgie und Schmerzspezialistin, Hirslanden Klinik Stephanshorn, St. Gallen.

Besonders in Seniorenheimen besteht hoher ungedeckter Bedarf an Schmerz-Therapie.
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Dr. Petra Hoederath, Fachärztin für Neurochirurgie, Hirslandenklinik Stephanshorn, St. Gallen

Die Lebenserwartung in der Schweiz steigt, sie hat sich seit 1876 verdoppelt, sagt Dr. Hoederath am Rheinfelder Tag Psychosomatik. Im Jahr 2020 geborene Mädchen resp. Jungen haben eine Lebenserwartung von 85,3 Jahren resp. 81,4 Jahren. Die Kehrseite dieser Medaille: Mit dem Alter steigt auch die Schmerzprävalenz.

Untersuchungen zeigen dabei:

  • 37–57 % der zu Hause lebenden Älteren,
  • 40–80 % der Pflegeheimbewohner und
  • 40 % der Demenzpatienten

leiden unter Schmerzen. Die SHELTER-Studie (2015) zeigte, dass ein Drittel der deutschen und ein Viertel der europäischen Pflegeheimbewohner trotz mittelstarker bis starker Schmerzen keine oder nur eine Bedarfs-Medikation erhalten, so Dr. Hoederath.

Mit Pain Detect und ZOPA den Schmerz erfassen

«Schmerz ist, was der Patient sagt» – dieses Credo, vor mehr als 25 Jahren etabliert, hat nichts an Relevanz eingebüsst. Numerische (NRS) und/oder bildliche Schmerzskalen zur Erfassung von Schmerzen sind unverzichtbar, um sich ein Bild vom Leiden eines Patienten machen zu können. Als Screening-Instrument für neuropathische Schmerzen hat sich beispielsweise der Pain-Detect-Fragebogen etabliert und ZOPA (Zurich Observation Pain Assessment) eignet sich für die Beurteilung von Schmerzen bei Demenz.

Die Schmerzerfassung bei kognitiv eingeschränkten und dementen Patienten ist unverändert eine besondere Herausforderung: über Verhalten, Lautäusserungen, Mimik, Körpersprache oder auch physiologische Indikatoren muss man versuchen, die Schmerzbelastung zu erfassen.

Welche Schmerzen gibt es?

In der Praxis stehen drei Schmerzarten im Vordergrund: Nozizeptorschmerzen (vor allem Schmerzen des Bewegungsapparates, Schmerzen bei Entzündungen und viszerale Schmerzen), neuropathische Schmerzen aufgrund von peripherer Schädigung (z.B. Trigeminusneuralgie oder Post-Zoster-Neuralgie) oder zentraler Schädigung – wegen Entzündungen im ZNS oder Rückenmarksschädigungen und Mixed Pain, wie man sie bei Tumor- oder Rückenschmerz beobachten kann.

In der Geriatrie kann die Diagnose Hinweise zum Schmerzcharakter und den grundsätzlich in Frage kommenden medikamentösen Interventionen liefern. Als spezielle «Schmerzformen» im Alter erwähnt die Expertin

  • Schmerz im Zusammenhang mit einem Sturz
  • Schmerz als Ausdruck einer Depression
  • Schmerzen beim Sterben und
  • Schmerzen nach dem Tod eines geliebten Menschen (schmerzende Seele).

Dr. Hoederath plädiert dafür, eine individualisierte, multimodale Schmerztherapie bei geriatrischen Patienten zu etablieren. Wichtige Komponenten dabei sind Infiltrationen (Sakralblock etc.), operative Massnahmen unter Beachtung alterstypischer Komorbiditäten, unterstützende psychologische Massnahmen, Physio- und/oder Ergotherapie und die gezielte medikamentöse Schmerztherapie – nicht selten die wichtigste Säule im Therapiekonzept.

Kategorien der FORTA-Liste

  • Kategorie A: Arzneimittel wurde schon an älteren Patienten in grösseren Studien geprüft, eindeutig positive Nutzenbewertung.
  • Kategorie B: vorteilhaft
  • Kategorie C: fragwürdig
  • Kategorie D: diese Arzneimittel sollten vermieden werden.

Start low, go slow, don’t stop

Die heutigen Schmerzmedikamente lassen sich in folgende Gruppen unterteilen: NSAR, COX-2-Hemmer, trizyklische Antidepressiva, Serotonin-Noradrenale-Wiederaufnahmehemmer (SNRI), Antikonvulsiva und Opioide. Bevor man Schmerzmedikamente einsetzt, müssen im Alter häufig veränderte physiologische Prozesse (v.a. pharmakokinetische und pharmakodynamische Veränderungen, aber auch Veränderungen auf Rezeptorebene) bedacht, sowie eine verminderte Nieren- und Leberfunktion in Betracht gezogen werden.

Grundsätzlich gilt für die geriatrische Pharmakotherapie: «Start low, go slow and don’t stop». Die LONTS-Guidelines von 2020, eine S3-Leitlinie zur Langzeitanwendung von Opioiden bei chronischen, nichttumorbedingten Schmerzen (s. Kasten), empfahl die Referentin ebenso als Basis für therapeutische Entscheidungen wie die FORTA-Liste, eine konsensusbasierte Arzneimittelliste mit den Empfehlungskategorien A, B, C und D für die medikamentöse Therapie im geriatrischen Setting (s. Kasten).

In der Rubrik «Chronischer Schmerz» der FORTA-Liste rangieren z.B. NSAR und COX-2-Hemmer in der Kategorie D, Metamizol in Kategorie B und nur Paracetamol in der Kategorie A. Die Opioide Buprenorphin, Oxycodon, Hydromorphon sind in der Kategorie B, und Morphin, Tapentadol und Tramadol in der Kategorie C gelistet.

Wichtige LONTS-Empfehlungen der Opioidtherapie

  • realistische Therapieziele setzen
  • Fahrsicherheit diskutieren
  • Indikation regelmässig überprüfen
  • Präparate mit verzögerter Freisetzung (oral oder transdermal) bevorzugen
  • Höchstdosis von Morphinäquivalenten: 120 mg/d
  • keine Bedarfsmedikation mit nichtretardierten Opioiden in der Langzeittherapie
  • Opioide können als langfristige Therapieoption angeboten werden.