Anstellung von pflegenden Angehörigen bei der Spitex
Häusliche Pflege und Betreuung von älteren und kranken Menschen oder von Kindern werden laufend komplexer und zeitintensiver, und es nehmen immer mehr Menschen Spitex-Leistungen in Anspruch. Vereinzelte Spitex-Organisationen stellen pflegende Angehörige an. Spitex Schweiz empfiehlt, dies unter definierten Bedingungen zu tun. Denn solche Modelle bergen Chancen, aber auch Risiken. Im Interview erläutert Marianne Pfister, Geschäftsführerin von Spitex Schweiz, warum im Fall einer Anstellung eine gute Pflegequalität eine wichtige Voraussetzung für eine gute Zusammenarbeit ist.
Jedes Jahr werden rund 64 Millionen Stunden häuslicher Pflege und Betreuung durch Angehörige geleistet, was einem Wert von 3.5 Milliarden Franken entspricht (1). Da die Arbeit von pflegenden Angehörigen meist unbezahlt ist, bleibt sie gesellschaftlich und gesundheitsökonomisch weitgehend unbeachtet - ein Umstand, der Einbussen in Einkommen und Altersvorsorge der Betroffenen nach sich zieht.
Spitex-Organisationen unterstützen und ermöglichen mit ihren Dienstleistungen das Wohnen und Leben zu Hause für Menschen aller Altersgruppen, die Pflege und oder Betreuung benötigen. Damit werden auch die Angehörigen entlastet und unterstützt. In bestimmten Situationen werden neuerdings pflegende Angehörige von der Spitex angestellt.
«work&care integra: Anstellung pflegender Angehöriger bei der Spitex»
Das Projekt «work&care integra: Anstellung pflegender Angehöriger bei der Spitex», welches von der Careum Hochschule Gesundheit durchgeführt wurde, gibt Einblicke in die Chancen aber auch Herausforderungen des Anstellungsmodells von pflegenden Angehörigen. Spitex Schweiz und diverse Spitex-Organisationen haben bei diesem Projekt mitgewirkt. Daraus entstanden ist ein Manual zur Anstellung pflegender Angehöriger.
Das Manual informiert über die Rahmenbedingungen für eine erfolgreiche Anstellung pflegender Angehöriger bei der Spitex. Es bietet Hinweise zur rechtlichen Situation, sowie zu Chancen und Herausforderungen. Checklisten unterstützen pflegende Angehörige und Spitex-Betriebe, kompetente Entscheide zu treffen.
Das Manual zur Anstellung pflegender Angehöriger (1) definiert das Arbeitsverhältnis: Die pflegenden Angehörigen erhalten einen Arbeitsvertrag von der Spitex – und haben somit Rechte und Pflichten als reguläre Arbeitnehmende. Den Umfang der Anstellung und die Lohnhöhe bestimmt der Spitex-Betrieb. Beides richtet sich nach dem Pflegebedarf für die zu pflegende Person.
Der anstellende Spitex-Organisationen ist für die Qualität der geleisteten Arbeit verantwortlich. Falls die angestellten pflegenden Angehörigen über die zeitlichen Kapazitäten und die nötige Qualifikation verfügen, können sie im Auftrag der Spitex-Organisation auch in anderen Haushalten Leistungen erbringen. Die im Umfang der Anstellung erbrachten Leistungen werden von der Spitex-Organisation über die Krankenversicherung der gepflegten Person abgerechnet.
Während der Arbeitszeit unterstehen die angestellten pflegenden Angehörigen der Betriebshaftpflichtversicherung der Spitex-Organisation.
Frau Pfister, wie entstand die Idee für das Forschungs- und Entwicklungsprojekt «work and care integra: Pflegende Angehörige bei der Spitex anstellen» der Careum Hochschule Gesundheit?
Marianne Pfister: Die Anstellung von pflegenden Angehörigen ist schon seit einiger Zeit ein grosses sozialpolitisches Thema. Entsprechend gibt es die Möglichkeit der Anstellung von pflegenden Angehörigen durch eine Spitex-Organisation nicht erst seit heute. Das Thema wird seit dem Bundesgerichtsentscheid von 2019 vermehrt und breiter diskutiert. Laut dem Entscheid müssen die Krankenversicherer die Pflege durch pflegende Angehörige, welche bei der Spitex angestellt sind, auch dann bezahlen, wenn diese keine Fachausbildung haben. Voraussetzung ist allerdings, dass diese Personen «nur» die sogenannte Grundpflege vornehmen dürfen – wie Hilfe bei der Körperpflege, beim Aufstehen, der Toilettenbenützung und der Essenseinnahme. Durch den Bundesgerichtsentscheid stiegen die Erwartungen an die Spitex-Organisationen, pflegende Angehörige anzustellen. Ausgehend davon entstand die Idee zu diesem Forschungsprojekt in Zusammenarbeit mit Careum.
Ist die Anstellung von pflegenden Angehörigen eine Win-Win-Situation für beide Seiten?
Durch die Anstellung von pflegenden Angehörigen erfahren diese Wertschätzung für ihre geleistete Arbeit, und durch die Zusammenarbeit mit der Spitex werden die pflegenden Angehörigen in ihrer Arbeit unterstützt und begleitet. Diese professionelle Begleitung ist eine grosse Entlastung für die Angehörigen. Ob ein pflegender Angehöriger angestellt wird, entscheidet die Spitex-Organisation, dabei muss aber die individuelle Situation berücksichtigt werden. Voraussetzung ist, dass die Pflege in der von der Spitex geforderten Qualität erbracht wird. Diese Voraussetzung ist nicht immer gegeben. Wenn die hygienischen Voraussetzungen nicht gegeben sind oder der pflegende Angehörige überfordert ist, wird es schwierig. Dann ist es sinnvoller, wenn die Spitex die Pflege übernimmt.
Wie läuft die Anstellung von pflegenden Angehörigen ab?
Als erstes wird der Pflegebedarf der zu betreuenden Person nach Vorgaben der Krankenpflege-Leistungsverordnung eruiert. Die Krankenkasse bezahlt nur Pflegeleistungen, welche die Spitex als Bedarf einstuft. Übernimmt der pflegende Angehörige etwa die sogenannte Grundpflege, kann diese als Pflegeleistung über die Krankenversicherung abgerechnet werden, sofern der oder die pflegende Angehörige bei einer Spitex angestellt ist. Im Gegensatz zur Pflegeleistung wird die Betreuung* nicht vom Krankenversicherer übernommen. Das muss zu Beginn klar kommuniziert und abgeklärt werden, damit keine falschen Vorstellungen entstehen.
Ist eine Anstellung auch ohne fachliche Qualifikation möglich? Wie handhaben Sie die Qualitätssicherung?
Es werden bei der Spitex im Wesentlichen drei Berufsgruppen unterschieden mit unterschiedlichen Kompetenzen: Pflegefachfrau/Pflegefachmann, Fachfrau/-mann Gesundheit (FaGe) und Pflegehelfer/in. Zusätzlich werden drei Leistungsbereiche unterschieden: Beratung und Koordination, Behandlungspflege wie beispielsweise Wundversorgungen, Medikationen etc, und die Grundpflege. Je nach Leistungsbereich werden die entsprechenden Fachpersonen eingesetzt. Wie erwähnt, ist gemäss einem Bundesgerichtsurteil aus dem Jahr 2019 nun keine Ausbildung für Grundpflegeleistungen von pflegenden Angehörigen mehr erforderlich. Nichtsdestotrotz hält Spitex Schweiz daran fest, dass alle pflegenden Angehörigen eine Mindestausbildung mitbringen müssen. Dies ist wichtig für die Qualitätssicherung. Aktuell ist das mindestens ein Kurs in Pflegehilfe, dieser dauert maximal drei Monate. Sicher könnten auch spezifische modulare Weiterbildungen für pflegende Angehörige entwickelt werden, leider sind diese heute noch nicht auf dem Markt. Wir sind daran dies zu prüfen.
Welche Chancen und Risiken gibt es bei der Anstellung von pflegenden Angehörigen durch die Spitex?
Ein ganz klarer Vorteil ist, dass die Spitex nahe dran ist und erfährt, wenn etwa pflegende Angehörige Fragen haben, an ihre Grenzen stossen oder überfordert sind. Die Spitex kann die pflegenden Angehörigen dann entlasten, sie kann intervenieren, man kennt den Fall und kann entsprechend schnell handeln und übernehmen. Das Risiko ist, dass die Pflege nicht entsprechend den Anforderungen der Spitex erbracht werden kann und die Spitex dafür letztlich die Verantwortung trägt. Pflegende Angehörige müssen wissen, dass die Anstellung bei der Spitex kein Erwerbsersatz ist. Oft sind es nur wenige Pflegestunden, die die Angehörigen als Angestellte der Spitex in einer Woche erbringen. Dies ist meist ein kleiner Nebenerwerb, die Angehörigen sind weiterhin auf eine Erwerbsarbeit angewiesen, um ihre Lebenskosten zu decken.
Was raten Sie den betreuenden Hausärzten?
Hausärzte können Menschen, die Angehörige zu Hause betreuen, auf dieses Modell aufmerksam machen. Sie müssen aber gut einschätzen, ob es für Angehörige in ihrer individuellen Situation zumutbar beziehungsweise auch für den zu pflegenden Menschen eine gute Lösung ist. Es gilt immer abzuwägen: Führt die Spitex-Anstellung zu einer Entlastung oder zu einer Belastung? Das ist sehr situationsbedingt. Oft kommt auch ein moralischer Aspekt seitens der Angehörigen dazu: Man pflegt die Eltern, obwohl man im Arbeitsleben steht und eigentlich keine Zeit dafür hat, man fühlt sich als Sohn oder Tochter dazu verpflichtet. Es entsteht ein Schuldgefühl, wenn man die Pflege und Betreuung abgibt, was wiederum zur Belastung führt. Manchmal ist es besser, wenn die Spitex den Fall ganz übernimmt. Der Hausarzt sollte einen differenzierten Blick auf die Situation werfen und die Optionen mit den Angehörigen genau besprechen.
*Betreuung: Aktivierung, Beschäftigung und Begleitung bei Alltagsaktivitäten der betreuungsbedürftigen Menschen. Diese Aufgabe übernimmt teilweise die ProSenectute oder ähnliche Organisationen, oder aber auch die Angehörigen. Diese Leistung wird nicht vom Krankenversicherer übernommen.
Vielen Dank für das Gespräch!