Medical Tribune
20. Okt. 2014Haltungsschäden am Rücken

Haltungsschwäche durch 4-Punkt-Diagnose entlarven

Der Homo sapiens verliert zunehmend seinen geraden Rücken, wer weiss, vielleicht landet er am Ende wieder im Vierfüsslergang. Vor allem angesichts der wachsenden Zahl jugendlicher "Krummlinge" äussern sich Orthopäden besorgt. Doch nicht jeder Fall ist so desolat, wie er auf den ersten Blick scheint. Eine neue Messmethode ermittelt zuverlässig das wahre Ausmass von Haltungsschäden. Und das hat therapeutische Konsequenzen.

Ein männlicher Rücken mit Rückenschmerzen
iStock/Filip_Krstic

Haltungsschwäche bedeutet, dass eine aktiv aufgerichtete Körperhaltung nicht oder nur kurz eingenommen werden kann, erläuterte Dr. Oliver Ludwig von der Arbeitsgruppe Kid-Check der Universität des Saarlandes gegenüber Medical Tribune. Bei optimaler Haltung lässt sich durch folgende Körper-Punkte eine senkrechte Linie ziehen:

  • äusserer Gehörgang
  • Akromion
  • Trochanter major
  • äusserer Sprunggelenksknöchel

Diese Punkte kennzeichnet man zum Zweck der Haltungsanalyse auf digitalen Fotos mit Markerpunkten, sodass eine Analysesoftware ihre Position zueinander genau ausrechnen kann. Gemessen wird zuerst die Ruhehaltung – auch "Gewohnheitshaltung" –, die oft stark vom lotgerechten Ideal abweicht.

Aktive Aufrichtung auf Marionetten-Kommando

Rund 70 % der 12- bis 17-Jährigen, die die Kid-Checkgruppe untersucht, weisen eine schwache Haltung auf, sprich mindestens zwei markierte obere Punkte weichen vom Lot durch den Fussknöchel ab, und zwar um > 2 % der Körperhöhe.

Mit Spannung warten die Kollegen dann auf das Resultat des zweiten Fotos. Vor dieser Aufnahme erhält der Jugendliche die Aufforderung, seine Haltung zu aktivieren, Bauch und Po anzuspannen, "grösser zu werden wie eine Marionette, bei der man am Kopffaden zieht". In vielen Fällen folgt dann ein wundersamer Wandel zur tadellosen Körperhaltung.

Jeder vierte junge Kandidat indessen bringt dies auch mit bewusstem Grösserwerden nicht zuwege – seine neuromuskuläre Haltungsregelung braucht Therapie. Falls die aktive Haltungskontrolle hingegen gelingt, hat schliesslich das Foto Nummer drei differenzialdiagnostische Bedeutung.

Verfällt die Haltung nach Augenschliessen besteht Therapiebedarf

Die Probanden sollen die Augen schliessen und ihre gute Position währenddessen beibehalten. Bei einem Teil der Jugendlichen verfällt der gerade Rücken trotz der Bemühungen innerhalb einer Minute: Hier funktioniert die propriozeptive Signalverarbeitung ungenügend, auch hier besteht Therapiebedarf, betonte Dr. Ludwig.

Knapp 40 % der von ihm untersuchten 12- bis 17-Jährigen benötigen eine Behandlung. Bei Defiziten in der propriozeptiven Informationsverarbeitung setzen die Experten vor allem auf Gleichgewichts- und Koordinationsübungen mit geschlossenen Augen. "Reines Muskeltraining würde bei diesen Patienten ins Leere zielen", so der Experte.

Ein pures Training der Muskelkraft spielt im Saarbrücker Konzept nur eine untergeordnete Rolle. Für das beliebte mechanische Erklärungsmodell für krumme Rücken (zu schwache Bauchmuskeln, verkürzte Hüftbeuger) gibt es nach kritischer Sichtung der Literatur keine Belege.

Bessere Daten liegen für den Zusammenhang zwischen koordinativen Fähigkeiten und stabiler Haltung vor. Propriozeptionstraining und neuronales Bahnen der Beckenkippung/Beckenaufrichtung haben daher Vorfahrt, Dehnung und Kräftigung kommen im Kid-Check-Programm erst an zweiter Stelle: "denn der stärkste Muskel bewirkt keine Haltungskorrektur, wenn er nicht gezielt gesteuert wird".

Wackel-Möbel in die Klassenzimmer!

Was die präventive Arbeit betrifft, so fordert Dr. Ludwig die Kooperation von Ärzten, Therapeuten, Sporttrainern und auch des schulärztlichen Dienstes. Denn auch durch schlechte Sitzpositionen im Klassenzimmer züchtet man Haltungsschwächlinge quasi heran – mit verheerenden Folgen für die Schul-Performance: Der Rückgang von Atemminutenvolumen und zerebralem Sauerstoffangebot mindert die Konzentration. Bewegungsfördernde Schulmöbel könnten somit nicht nur die Haltung, sondern auch die Zeugnisnoten der Jugendlichen bessern.

Quelle: MT-Bericht