Medical Tribune
29. Sept. 2023Nach einer Commotio ist eine aktive Rehabilitation sinnvoll

Gehirnerschütterungen gehen aufs Gedächtnis

Egal ob Kopfball, Zusammenstoss mit dem Gegner oder Sturz vom Velo: Beim Sport ergeben sich viele Möglichkeiten für Schädel-Hirn-Traumata. Doch ist im Falle einer einfachen Gehirnerschütterung nach ein paar Tagen wirklich wieder alles beim Alten? Experten zufolge trügt die Sicherheit oft.

Auch eine leichte Commotio kann üble Auswirkungen auf die Kognition haben.
Monika Wisniewska/stock.adobe.com

Die langfristigen Auswirkungen eines leichten Schädel-Hirn-Traumas (Grad 1) auf die Kognition werden häufig unterschätzt. Insbesondere wiederholte Gehirnerschütterungen gehen mit einem erhöhten Risiko für verschiedene neurologische Erkrankungen und langfristige kognitive Defizite einher. So lautet das Fazit einer Übersichtsarbeit deutscher Autoren (1).

Fussball und Eishockey gehören zu den riskantesten Sportarten

Allein in den USA ereignen sich Schätzungen zufolge jährlich rund 3,8 Millionen Gehirnerschütterungen beim Sport und im Rahmen von Freizeitaktivitäten. Rund die Hälfte davon wird dabei gar nicht erst aktenkundig.

Offenbar nehme die Häufigkeit von Schädel-Hirn-Traumata im Sport seit Jahrzehnten stetig zu, so die Autoren. Zu den Risikosportarten in dieser Hinsicht gehören US-Studien zufolge American Football, Eishockey und Fussball.

Commotio kann Axone und Blutgefässe verletzen

Im Rahmen einer Commotio kann es zu diffusen, unter Umständen schwer zu erkennenden Verletzungen kommen. Die Folgen hängen davon ab, ob bei der Erschütterung Axone von Nervenzellen, Blutgefässe, oder beides beschädigt werden. Die möglichen Auswirkungen reichen dabei von Störungen in der Signalübertragung, dem Stoffwechsel und dem zerebralen Blutfluss bis hin zu einem akuten Ausfall der neuronalen Funktionen.

Obwohl die zugrunde liegende Pathophysiologie noch nicht geklärt ist, legen neuere Hypothesen einen Zusammenhang zwischen kognitiven Beeinträchtigungen nach einer Gehirn­erschütterung und axonalen Verletzungen im Hippocampus nahe. Demnach könnten anhaltende Defizite bei der Synchronisation, der Gedächtniskonsolidierung und der Verbindung zwischen dem Hippocampus und anderen Hirnregionen (z.B. präfrontaler Kortex, Amygdala) die Ursache für Symptome wie Gedächtnisstörungen und Aufmerksamkeitsdefizite sein.

Auch nach Monaten noch anhaltende kognitive Defizite

Ausserdem können sich kognitive Folgen einer Gehirnerschütterung in Form von Beeinträchtigungen der Verarbeitungsgeschwindigkeit und der exekutiven Funktionen äus­sern. Die Symptome klingen in der Regel innerhalb weniger Tage bis zu einem Monat ab. Doch es gibt auch Fälle, in denen sie drei oder mehr Monate anhalten. Auch das Verschwinden der Symptome bedeutet nicht unbedingt, dass die kognitiven Fähigkeiten vollständig wiederhergestellt sind. So zeigen neuropsychologische Tests bei 80 bis 90 Prozent der Betroffenen anhaltende kognitive Defizite auf.

Vor allem wiederholte Gehirn­erschütterungen steigern zudem die Gefahr für einen späteren kognitiven Verfall und Depressionen. Sie erhöhen ausserdem offenbar das Risiko für Multiple Sklerose, Alzheimer, Schlaganfall, Parkinson und Epilepsie. Erschwerend kommt hinzu, dass jede Gehirnerschütterung die Sensibilität für weitere Verletzungen dieser Art zu erhöhen scheint: Die Stärke des Aufpralls, die erforderlich ist, um neuropathophysiologische Veränderungen und klinische Symptome hervorzurufen, nimmt mit jeder Commotio weiter ab.

MRI als bevorzugtes bildgebendes Verfahren

Bei der Beurteilung von Gehirn­erschütterungen sowie anderen Schädel-Hirn-Traumata stehen neurologische, neuropsychologische und vestibuläre Tests im Vordergrund. Zunehmend kommt auch Bildgebung zum Einsatz.

In schweren Fällen kann eine CT durchgeführt werden, um eine intrakranielle Blutung auszuschliessen. Angesichts der geringeren Sensitivität der CT für andere mit der Gehirnerschütterung zusammenhängende Veränderungen bleibt die Magnetresonanztomografie jedoch das bevorzugte Verfahren. Dies gilt insbesondere in der sub­akuten und chronischen Phase, wenn die Genesung schlechter als erwartet verläuft oder neurologische Defizite bestehen bleiben.

Darüber hinaus haben Biomarker wie Neurofilament-Leichtketten und mobile Medizingeräte wie tragbare Beschleunigungssensoren das Potenzial für eine schnellere und präzisere Bewertung von Schädel-Hirn-Traumata. Bevor diese Methoden jedoch für den Einsatz in der Praxis empfohlen werden können, fordern die Autoren des Reviews weitere Studien.

Moderate Aktivität statt Ruhepause nach Gehirnerschütterung

Bei mittleren und schweren Traumata liegt der Schwerpunkt der Behandlung auf der beruflichen, sprachlichen, körperlichen und psychologischen Rehabilitation sowie der Verbesserung der Funktionsfähigkeit. Die kognitive Rehabilitation rückt dabei oft in den Hintergrund.

Gemäss einem Konsenspapier der Concussion in Sport Group wird der schrittweise Wiedereinstieg in die körperliche Betätigung nach einer anfänglichen 24- bis 28-stündigen Ruhepause empfohlen. Diese Massnahme verringert die Wahrscheinlichkeit, dass der Betroffene unmittelbar danach eine weitere Gehirnerschütterung erleidet.

Trotzdem wird die Empfehlung kognitiver und körperlicher Ruhepausen heutzutage infrage gestellt. So wurden Hinweise darauf gefunden, dass absolute Ruhe die Genesung nicht signifikant beschleunigt und im schlimmsten Fall sogar beeinträchtigen kann. Dahingegen verbessert moderate körperliche und geistige Aktivität die neurokognitiven Ergebnisse nach einer Gehirnerschütterung im Vergleich zu hoher oder keiner Aktivität.

Strukturiertes Lernen induziert Neuroplastizität

Die Autoren der Übersichtsarbeit sprechen sich daher für eine aktive Rehabilitation aus. Ihrer Ansicht nach ist dabei das kognitive Training eine sinnvolle zusätzliche Option. Durch strukturierte und kontrollierte Lernereignisse induziert es eine erfahrungsabhängige Neuroplastizität. Dies eröffnet nicht nur die Möglichkeit, kognitiven Defiziten nach einer Gehirnerschütterung vorzubeugen und bestehende Symptome zu lindern. Auch die sportliche Leistung wird dadurch verbessert und das Verletzungsrisiko gemindert.