Medical Tribune
15. Juni 2023Was bei Differenzialdiagnostik und Behandlung zu beachten ist

Psychose und ADHS: Oft ähnlich, und doch verschieden

Zwischen Psychosen und ADHS gibt es klinisch einige Parallelen. Dennoch sind die beiden Störungen grundverschieden. Ein Experte erklärt, worauf es bei der Differenzialdiagnose ankommt, und wie behandelt wird, wenn ein Patient tatsächlich eine Psychose und ein ADHS aufweist.

Psychose und ADHS muten klinisch oft ähnlich an.
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Während Psychosen mit einer Prävalenz von rund 0,8 Prozent in der Normalbevölkerung selten sind, kann man das von der Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätsstörung (ADHS) nicht gerade behaupten: «Wir gehen heute davon aus, dass zwischen sechs und zehn Prozent der Kinder betroffen sind. Mindestens die Hälfte der Patienten weist auch im Erwachsenenalter weiterhin einschränkende Symptome auf» erklärt PD Dr. Pascal Burger, leitender Arzt am Zentrum für Psychiatrie und Psychotherapie, Klinik Zugersee (1).

Diametrale Unterschiede bei Genetik und Ätiologie

«ADHS und Psychosen sind grundsätzlich sehr verschieden» sagt PD Dr. Burger. So weisen die genetischen Landschaften von ADHS und den psychotischen Erkrankungen und der Schizophrenie vergleichsweise kleine Überlappungen auf (2).

Und auch die bekannten physiologischen Mechanismen der beiden Erkrankungsbilder unterscheiden sich wesentlich. Der Ursprung der Schizophrenie liegt möglicherweise in einer Überempfindlichkeit gegenüber Dopamin oder Serotonin, bzw. einer Unterfunktion des NMDA-Rezeptors. Dopamin-agonistische Substanzen wie Amphetamin oder Kokain können psychotische Symptome auslösen. Bei Patienten mit einer Psychoseneigung wäre das Risiko zur Entwicklung von Symptomen dann noch höher.

Stattdessen codieren die für das ADHS bekannten Prädispositionsgene für Strukturen, die im Monoaminstoffwechsel, v.a. für Noradrenalin und Dopamin veranwortlich sind. Diese «fehlen» dann, was für die ADHS-Klinik verantwortlich erachtet wird. Daher lässt sich die ADHS auch sehr effektiv durch Methylphenidat und Amphetaminpräparatebehandeln.

Pascal Burger
zVg

«ADHS kommt nicht nur in der Kindheit vor» sagt PD Dr. Pascal Burger, leitender Arzt am Zentrum für Psychiatrie und Psychotherapie, Klinik Zugersee.

Psychosen und ADHS sind wichtige Differenzialdiagnosen

Klinisch gibt es jedoch bei Psychotikern und Menschen mit ADHS einige Überschneidungen, erinnert PD Dr. Burger. Es sei daher wichtig, die ADHS differenzialdiagnostisch von einer Psychose abzugrenzen. «Denn einem Psychotiker sollten keinesfalls ADHS-Medikamente gegeben werden.»

Neben den Hauptsymptomen des ADHS (Aufmerksamkeitsstörungen, Erregbarkeit, Motorische Unruhe und Impulsivität), sollten gerade in der Diagnostik «Red Flags» bei Erwachsenen beachtet werden. Dazu zählen u.a.:

  • Prokrastination und affektive Labilität
  • Konzentrationsschwierigkeiten (führen zu häufigen Unfälle, Schusseligkeit)
  • Erhöhtes Risikoverhalten
  • Schwierigkeiten beim Zeitmanagement
  • Emotionale Durchbrüche (Anger control)

Einige, wie die Überstimulation, der Hyperfokus, das Unvermögen, Zeitvorgaben einzuhalten, sowie die Konzentrationsschwierigkeiten, werden mitunter auch von Psychosepatienten oft geschildert, erklärt PD Dr. Burger. Andere, etwa ein erhöhtes Risikoverhalten, sind auf diese Weise beim Psychotiker nicht zu erwarten.

ADHS im Erwachsenenalter oft «untypisch»

Was die differenzialdiagnostische Abgrenzung zur Schizophrenie erschweren kann, ist, dass bei der ADHS im Erwachsenenalter oft nicht mehr alle für das Kind typischen Symptome in gleicher Art ausgeprägt sind. «Viele Patienten haben gelernt, zu adaptieren. Gerade die Hyperaktivität und Impulsivität kommen bei Erwachsenen oft nicht mehr in gleicher Deutlichkeit vor.»  Und auch der erhöhte Suchtmittelmissbrauch von ADHS-Patienten ist ein Faktor, der in der Differentialdiagnose miteinbezogen werden muss: «Manche ADHS-Patienten konsumieren jahrelang Drogen, und entwickeln darüber chronifizierte psychotische Zustände. Diese Patienten sind aber nicht gleich schizophren», erinnert PD Dr. Burger. Er rät daher zu einer ausführlichen Anamneseerhebung.

Einen Hinweis darauf, ob eine ADHS oder eine Psychose vorliegt, bietet die Genetik: «Ist in der Familie bereits ein Fall mit ADHS bekannt, erhöht das die Wahrscheinlichkeit für ein ADHS.» Das gleiche gilt für Psychosen: Bei einem betroffenen erstgradigen Angehörigen (= Eltern, Geschwister, Kinder) ist das Risiko deutlich im Verhältnis zur Normalbevölkerung erhöht.

Was ebenfalls für eine ADHS sprechen könnte, ist – im Gegensatz zur Psychose – eine Vorgeschichte in der Kindheit.

Insgesamt geht man davon aus, dass nur rund die Hälfte der ADHS-Fälle identifiziert und behandelt werden.

Wie ein ADHS zu identifizieren ist

Bei der Klassifikation einer ADHS sollte man eine ausführliche Anamnese vornehmen. Die Symptomatik muss in mehreren Lebensbereichen relevant vorhanden sein. Formale Denkstörungen (i.S. von z.B. Gedankenabreissen, inkohärentem Denken o.ä.), wie sie beim Psychotiker vorkommen, sollten nicht auftreten. Vermutet man ein ADHS bei einem Patienten, ist der nächste Schritt, ein Tool zur ADHS-Diagnose anzuwenden. PD Dr. Burger empfiehlt, für ein erstes Screening die Kurzform der ASRS v.1.1 heranzuziehen, ein von der WHO erstellter Fragebogen, welcher eine gute Sensitivitität und Spezifität bietet.

Bei einem positiven Ergebnis sollte eine ausführliche Anamnese zur medizinischen und persönlichen Vorgeschichte erfolgen. Auch somatische Erkrankungen (z.B.: Schilddrüse, Eisen, Vitamine etc.) sollten ggf. zum Ausschluss evaluiertwerden, und eine Medikations- und Suchtanamnese (Koffein, Glucokortikoide, Thyroxin etc.) erhoben werden.

Im Nachgang sollte dann ein spezifischer ADHS-Test vorgenommen werden. «Der Goldstandard im deutschsprachigen Bereich sind die Homburger ADHS-Skalen für Erwachsene (HASE)», erklärt der Experte. «Diese decken sowohl die Kindheit als auch die Erwachsenenzeit ab, und ziehen auch die Angehörigen oder Vertrauenspersonen mit einem Fremdbewertungsbogen mit ein.»

Viele ADHS-Patienten hegen Vorurteile gegenüber ihrer Medikation

Interessanterweise hegen viele Patienten Ressentiments gegen eine ADHS-Medikation. Viele «therapieren sich stattdessen selbst»: ADHS-Patienten neigen unter anderem oft zum Missbrauch von Substanzen, die den Dopaminstoffwechsel beeinflussen (z.B. Kokain). 

Dabei profitieren die meisten Patienten mit ADHS deutlich von einer Medikation (4). Studien zeigen, dass ADHS-Betroffene, die regelmässig Ritalin® einnahmen, auch ein Jahr später einen verbesserten Gesamtzustand hatten. Verbesserungen können dabei in mehreren Lebensbereichen erwartet werden, darunter:

  • Fahrverhalten
  • Adipositas
  • Selbstwertgefühl
  • Soziale Funktion
  • Akademische Funktion
  • Drogenverhalten

Eine begleitende Psychotherapie sollte fallspezifisch evaluiert werden, ist aber häufig ebenfalls ratsam, rät PD Dr. Burger.

Bei Patienten mit ADHS und Psychose

«Im extrem seltenen Fall, dass ein ADHS kombiniert mit einer Psychose bei einem Patienten auftritt, ist man gezwungen, den Nutzen und das Risiko der Therapien gegeneinander abzuwägen» so PD Dr. Burger. «Für das Vorgehen gibt es keine Leitlinie, man orientiert sich dabei nach Expertenmeinungen.» Ist ein Patient akut selbst- oder fremdgefährdend, halluzinierend, psychotisch oder wahnhaft, muss man jedenfalls den psychotischen Symptomen jedenfalls den Vorrang geben – die medikamentöse Einstellung der ADHS-Symptomatik ist dann zunächst zweitrangig.

Bei der Wahl der Medikation sollte man weitere Risikofaktoren, die voraussichtliche Compliance und Komorbiditäten wie Sucht miteinbeziehen. Bei vorliegendem ADHS mit Psychose empfehlen sich als erstes Partialagonisten wie Aripiprazol, Amisulprid oder Cariprazin. Aber auch auf nicht-dopaminergre ADHS-Medikamente wie Atomoxetin oder Guanfacin (das eigentlich nur für Kinder zugelassen ist, aber bei Erwachsenen dann wahrscheinlich auch gute Chancen auf Bewilligung haben könnte) lässt sich zurückgreifen.