Professor Kesselring: «Wir wollen wissen, wo wir heute stehen!»
Die epidemiologische Datenlage zur Multiplen Sklerose in der Schweiz ist dürftig. Schätzungen gehen von etwa 10 000 Patienten aus. Ebenso fehlt es an Erkenntnissen zur Therapie in der Praxis oder zu den Auswirkungen der Krankheit auf Alltag und Berufsleben. Daher hat die Schweizerische MS-Gesellschaft die Initiative ergriffen und das MS-Register ins Leben gerufen.
Dieses Register steht allen Betroffenen offen und soll Gesundheitszustand, therapeutische Interventionen, Lebensstil, Beeinträchtigung durch die MS und vieles mehr in halbjährlichen Intervallen erfassen und im Langzeitverlauf dokumentieren.
Anlässlich des jährlich Ende Januar in Luzern stattfindenden Symposiums «MS – State-of-the-Art» sprachen wir mit Professor Dr. Jürg Kesselring, dem Präsidenten des Schweizer MS-Registers (SMSR), über die Konzeption und die Ziele dieses wichtiges Projekts.
Herr Prof. Kesselring, welche Idee steht hinter dem SMSR, und gab es Vorbilder, an denen sich diese Initiative der MS-Gesellschaft orientierte?
Prof. Kesselring: Wir waren schon immer interessiert an epidemiologischen Daten, also an der Zahl der MS-Betroffenen in der Schweiz, an der Häufigkeit unterschiedlicher Verlaufsformen und an der Behandlung, welche diese Patienten erhalten. Wir hatten eine immer noch verbindliche epidemiologische Studie im Kanton Bern durchgeführt und 1994* publiziert. Dr. Beer war mein erster Doktorand. Wir haben sämtliche MS-Patienten des Inselspitals erfasst und alle Spitäler des Kantons kontaktiert mit der Bitte um Angabe aller Patienten mit der Austrittsdiagnose MS. Und schliesslich haben wir alle niedergelassenen Neurologen gebeten, uns entsprechende Patientendaten zukommen zu lassen. Der uns damals von der neurowissenschaftlich engagierten deutschen Hertie-Stiftung zur Verfügung gestellte IBM-Computer hatte ein beachtliches Format und eine Speicherkapazität von 10 MB.
So haben wir für den Kanton Bern verlässliche Daten (Minimaldaten) erhalten: In einer Bevölkerung von knapp einer Million hatten wir 1066 MS-Patienten identifizieren können. Daraus resultierte die oft zitierte Prävalenz von 10 000 MS-Patienten in der Schweiz. Wesentlich schwieriger ist es jedoch, im Rahmen einer epidemiologischen Untersuchung die Inzidenz zu bestimmen. Diese haben wir aus der individuellen Krankheitsdauer und den Mortalitätsdaten berechnet. Wir kamen damals auf 4–6 Neuerkrankungen pro 100 000 Einwohner/Jahr. Und daher rührt die Zahl von einer täglichen Neuerkrankung in der Schweiz.
Der Start für das SMSR erfolgte im Juni 2016 am Schweizer MS-Tag. Könnten Sie die Konzeption erläutern?
Prof. Kesselring: Mit diesem MS-Register wollen wir neue Daten erheben, damit wir wissen, wo wir heute stehen. Die Gewährleistung des Datenschutzes stellt hierbei einen essenziellen Aspekt dar. Die Betroffenen können selbst bestimmen, was sie dem Register anvertrauen und wie detailliert sie sich äussern wollen. Die Angaben erfolgen zwar anonym – aber sie helfen uns, eine aktuelle Bilanz zu erstellen. Ich möchte die sehr seriöse Vorbereitung des Registers seitens der MS-Gesellschaft hervorheben, die gewährleistet, dass keinerlei Pharma-Interessen im Spiel sind. Die wissenschaftliche Auswertung der Daten liegt beim EBPI (Epidemiology, Biostatistics and Prevention Institute) des USZ – unter Federführung von Professor Dr. Milo Puhan und PD Dr. Viktor von Wyl – in besten Händen.
In den ersten sechs Monaten haben sich bereits mehr als 1100 MS-Patienten registriert, wodurch wir unser Konzept als Erfolgsstory bestätigt sehen.
Welche Rolle haben die betreuenden Ärzte ?
Prof. Kesselring: Es ist uns ein Anliegen, dass die Datenqualität im Hinblick auf die Diagnose sichergestellt ist. Daher bekommen die Patienten nach der Registrierung via Eingangsfragebogen– und vor der Teilnahme an weiteren (in der Regel halbjährlich erfolgenden) Befragungen – ein Formular ausgehändigt, mit dem der behandelnde Arzt die Diagnose bestätigt.
Ich möchte an dieser Stelle festhalten, dass niedergelassene Neurologen keine Bedenken haben müssen, man würde ihnen die Patienten «abwerben». Das Register dokumentiert, mit nachfolgender Auswertung – nicht mehr und nicht weniger.
Als weiteres wichtiges Projekt existiert die Schweizer MS-Kohortenstudie. Welche Ziele werden verfolgt?
Prof. Kesselring: Grundsätzlich liegt der Fokus der Kohortenstudie im medizinischen Bereich, und die Daten basieren auf ärztlichen Angaben.
Ist zwischen SMSR und Kohortenstudie ein Datenaustausch geplant? In welcher Form und mit welchem Ziel?
Prof. Kesselring: Mit Erlaubnis von Patienten können Daten der Bildgebung und Laborresultate im Register «deponiert» werden, um Verlaufsentwicklungen unter bestimmten medikamentösen Interventionen vergleichen zu können. Die Teilnehmer beider Studien werden ermutigt, ihre Einwilligung zum Austausch der verschlüsselten Daten zwischen Kohorte und Register zu ermöglichen.
Abschliessend möchten wir Sie um eine erste Bilanz bitten – und um Ihre Erwartungen an das SMSR.
Prof. Kesselring: Zum einen sind aktuelle Prävalenzdaten der MS von grossem Interesse, auch wegen der gesundheitspolitischen und gesundheitsökonomischen Dimension. Ebenso brauchen wir Daten zur Inzidenz, denn wir wissen nicht, ob und wie sich diese in den letzten Jahrzehnten verändert hat. Gewisse Hinweise deuten auf eine Zunahme, deren Hintergründe wir erforschen müssen. Wir wissen auch nach wie vor nicht, weshalb Frauen etwa doppelt so oft von einer MS betroffen sind. Hier besteht erheblicher Forschungsbedarf.
Besten Dank für das Gespräch!
* Beer S, Kesselring J. High prevalence of multiple sclerosis in Switzerland. Neuroepidemiology 1994; 13(1–2): 14–18.