Medical Tribune
10. Juni 2016Einschlafen der Zehen und Fingerkuppen

Erkennen Sie ein Guillain-Barré-Syndrom?

Bei der körperlichen Untersuchung stellte der Hausarzt eine Hypästhesie an den Zehen und an den Fussaussen- und -innenkanten fest. Im Vergleich zur rechten Hand fiel auch an den Fingerendgliedern der linken Hand eine herabgesetzte Berührungsempfindung auf. Der Patellarsehnenreflex liess sich beidseits vermindert, der Cremasterreflex gar nicht auslösen. Die Muskelkraft an beiden Armen und Beinen schien nicht beeinträchtigt.

Auf Nachfrage berichtete der Patient, dass er vor etwa drei Wochen einen Atemwegsinfekt gehabt und in letzter Zeit etwa 10 kg Gewicht verloren habe. Angesichts der neurologischen Auffälligkeiten und der Anamnese mit wahrscheinlich viralem Infekt vermutete der Hausarzt ein akut beginnendes Guillain-Barré-Syndrom und wies den jungen Studenten umgehend in die Klinik ein.

Neurologen verzichteten auf immunmodulierende Therapie

Die Klinikkollegen fanden zusätzlich zu den vom Hausarzt festgestellten Befunden eine leichte Schwäche der orofazialen Muskulatur und eine leichte Paraparese der Beine mit "verplumptem" Einbeinhüpfen und erschwerter Kniebeuge. Der junge Mann klagte auch über eine neu aufgetretene erektile Dysfunk­tion. Die Neurologen interpretierten das als Zeichen einer Beteiligung des autonomen Nervensystems.

Bei der elektrophysiologischen Untersuchung fiel eine Verlangsamung der Nervenleitgeschwindigkeit im Sinne einer Demyelinisierung auf, die Liquoruntersuchung ergab eine Eiweiss­erhöhung bei normaler Zellzahl. Eine solche Befundkonstellation ist typisch für ein Guillain-Barré-Syndrom (GBS). Die Klinikärzte interpretierten die Anamnese und Befunde des Patienten als mild verlaufende Erkrankung. Sie verzichteten aufgrund der geringen Beschwerden auf eine immunmodulierende Therapie und empfahlen lediglich engmaschige neurologische Kontrollen. Eine Rehabilitation lehnte der junge Mann ab.

Varizellen- und EBV-Infektion gelten als mögliche Auslöser

Das GBS ist eine seltene, akut auftretende entzündliche Veränderung des peripheren Nervensystems, deren Ursache nicht vollständig verstanden ist, schreiben Dr. Stephan Fuchs, Sektion Allgemeinmedizin der Universität Halle-Wittenberg und Kollegen. Es wird mit Impfungen oder auch Infektionen (z.B. mit Varizella-Zoster-Viren, Epstein-Barr-Viren oder Campylobacter jejuni) in Verbindung gebracht. Zu den obligaten Diagnosekriterien des GBS zählen:

  •     Hyporeflexie oder Areflexie
  •     Progressive symmetrische Schwäche an mehr als einer Extremität
  •     Symmetrische Schwäche
  •     Progression > 4 Wochen

Zu den zusätzlichen Symptomen, die die Diagnose unterstützen, gehören sensible Symptome, eine Hirnnervenbeteiligung, autonome Dysfunktion, elektrophysiologische Zeichen einer Demyelinisierung und ein typischer Liquorbefund (Eiweisserhöhung, Zellzahl < 10/mm3). Andere Ursachen wie Porphyrie, Elektrolytveränderungen, eine Intoxikation oder ZNS-Infektionen sollten differenzialdiagnostisch ausgeschlossen werden.

Häufig wird das GBS nur mit der Extremform der Atemlähmung oder massiven Lähmungen in Zusammenhang gebracht. Tatsächlich entwickeln nur etwa 15 bis 20 % der GBS-Patienten eine lebensgefährliche Lähmung der Atem- und Schluckmuskulatur, sodass eine Betreuung auf einer Intensivstation erforderlich wird. Etwa 5 % der Patienten sterben an den Komplikationen des GBS, rund 20 % der GBS-Patienten müssen mit dauerhaften neurologischen Ausfällen leben.

Quelle: Fuchs S et al. Z Allg Med 2016; 92: 116-120