Neue Perspektiven für die kardiovaskuläre Versorgung im Alter
Die alternde Bevölkerung stellt auch die Kardiologie vor neue Herausforderungen. Am ESC-Jahreskongress diskutierten Experten, wie sich Leitlinien, Diagnostik und Therapien besser am funktionellen Status statt nur am chronologischen Alter orientieren könnten.

«Bereits heute sind in Europa mehr als 20 % der Bevölkerung über 60 Jahre alt – bis 2050 wird dieser Anteil auf rund 35 % steigen», betonte Prof. Dr. Konstantinos Toutouzas, Universität Athen.
Primärprävention lohnt sich auch im Alter
Mit dem Alter nimmt auch die Prävalenz für kardiovaskuläre Erkrankungen zu – von rund 40 % bei 60-Jährigen auf fast 90 % bei 80-Jährigen. Dennoch lohnen sich Präventionsmassnahmen bei Gesunden auch jenseits des 70. Lebensjahres. «Wenn 70- bis 75-Jährige mit dem Rauchen aufhören und ihren Blutdruck unter 140 mmHg senken, gewinnen sie im Schnitt 1 bis 1,6 Lebensjahre», sagte der Referent.
Wie genau kardiologische Primärprävention bei Älteren aussehen sollte, sei nicht einfach zu beantworten. «Bei über 70-Jährigen sehen die ESC-Leitlinien das SCORE2-OP-Modell zur Riskoeinschätzung vor», erläuterte Prof. Toutouzas. Dieses Instrument berücksichtigt neben klassischen Risikofaktoren auch die altersbedingt höheren Grundrisiken sowie geografische Unterschiede.
Allerdings sei die Datenlage bei Älteren schwach. In den Leitlinien wird letztlich nur die opportunistische Blutdruckmessung als Screening-Massnahme für offensichtlich gesunde Männer ab 40 und Frauen ab 50 Jahren klar empfohlen – für alle anderen Risikofaktoren gibt es keine eindeutige Vorgabe. In der Praxis arbeite man daher oft mit denselben Cut-offs wie bei jüngeren Patienten. Wichtige Zusatzfaktoren in der Beurteilung seien Frailty, Komorbiditäten, Polypharmazie und Patientenpräferenzen.
ASS weiterhin Standard in der Sekundärprävention
Grosse Studien wie HYVET, SPRINT oder PROSPER zeigen aber, dass sich Interventionen wie Blutdruck- und Lipidsenkung auch im höheren Alter lohnen. Bei Typ-2-Diabetes haben sich zusätzlich SGLT-2-Hemmer etabliert, bei chronischer Nierenerkrankung eine konsequente LDL-Senkung mit Statinen und Ezetimib. Acetylsalicylsäure (ASS) habe hingegen in der Primärprävention aufgrund der deutlich erhöhten Blutungsgefahr keinen Platz mehr, wie neuere Studien belegen.
In der Sekundärprävention bleibt ASS allerdings weiterhin Standard – alternativ kommt Clopidogrel infrage. «Auch die Sekundärprävention lohnt sich bei Älteren», betonte der Experte. Modellierungen zeigen, dass selbst bei 90-Jährigen kardiovaskuläre Ereignisse verhindert werden können – und der absolute Nutzen der Prävention mit zunehmendem Alter sogar steigt.
Bildgebung als Schlüssel zum «biologischen Alter»?
Dr. Nina Ajmone Marsan, Leiden University Medical Center, berichtete, dass auch bei älteren Patienten die klassische Echografie die Basis zur Erkennung kardiovaskulärer Erkrankungen bleibt. Bei ihnen sei jedoch häufig zusätzlich ein multimodales Vorgehen nötig. Herausfordernd seien bei der Bildgebung bei Älteren unter anderem Komorbiditäten wie Nierenfunktionsstörungen, COPD oder kognitive Einschränkungen. Zusätzlich können ausgedehnte Kalzifikationen und Rhythmusstörungen die Interpretation erschweren.
Stresstests seien ebenfalls oft problematisch, denn atypische Symptome, limitierte körperliche Belastbarkeit, vorbestehende EKG-Veränderungen, Wandbewegungsstörungen in Ruhe oder eine eingeschränkte Bildqualität machen die Befunde teils schwer einzuordnen. Hinzu kommen altersbedingte Veränderungen – etwa diastolische Dysfunktion, Myokardverdickung oder Kalzifizierung –, die nicht zwingend pathologisch sind.
Neu ist, dass die aktuellen Leitlinien zur diastolischen Dysfunktion erstmals altersabhängige Cut-offs definieren. «Das verändert unsere Interpretation grundlegend», betonte Dr. Marsan. «Solche altersbezogenen Referenzen brauchen wir auch für valvuläre Degenerationen und Kalzifizierungen.» Ein neuer Forschungstrend geht dahin, Veränderungen in der Bildgebung zur Bestimmung des biologischen Herzalters zu nutzen. Dies könnte künftig eine präzisere Risikoeinschätzung erlauben.
Anhand von Patientenbeispielen zeigte Dr. Marsan, dass Bildgebung entscheidend sein kann, etwa bei der Erkennung einer Amyloidose oder bei der Planung von TAVI-Prozeduren mittels CT. Wichtig sei jedoch, Bildgebung nur dann einzusetzen, wenn das Ergebnis Konsequenzen für Therapieentscheidungen hat. «Over-Testing produziert Befunde, mit denen wir am Ende nichts anfangen können. Das Ziel ist, eine Behandlungsstrategie festzulegen, nicht exzessives Phänotyping.»
Frailty und Frakturen – eine doppelte Herausforderung
Entscheidend bei der Beurteilung von älteren Patienten ist auch die Frailty, wie Prof. Dr. Luigina Guasti, Universität Insubrien, Varese, ausführte. Besonders im Kontext von Hüftfrakturen verschärfe die Kombination aus Gebrechlichkeit, Operation und kardiovaskulären Erkrankungen das Risiko. Patienten mit Herzerkrankungen stürzen häufiger und haben eine erhöhte Mortalität nach Frakturen. Umgekehrt steigt nach einer Hüftfraktur auch das Risiko für kardiovaskuläre Ereignisse. «Das Exzess-Risiko für kardiovaskuläre Mortalität reicht nach einer Hüftfraktur über ein Jahr hinaus. In dieser Zeit sind kardiovaskuläre Ursachen die häufigste Quelle für Zusatzmortalität», erklärte Prof. Guasti.
Das europäische Konsensusstatement, an dem Prof. Guasti mitgearbeitet hat, formuliert deshalb Empfehlungen zur Prävention und Versorgung gebrechlicher älterer Menschen nach Hüftfraktur. Wichtig sei, präoperativ abzuklären, ob kardiovaskuläre Erkrankungen hinter einem Sturz liegen könnten, der zur Hüftfraktur geführt hat, und wie diese im Zuge der OP zu behandeln sind. «Denn fast 80 % der Patienten, die postoperativ ein kardiovaskuläres Ereignis erleiden, hatten präoperativ zumindest eine kardiovaskuläre Erkrankung», so Prof. Guasti. Zudem sollte man die Operation möglichst sofort durchführen: Schon Verzögerungen von mehr als 48 Stunden erhöhen die Mortalität.
Postoperatives Delir konsequent verhindern
Da die Frailty ein entscheidender Risikofaktor nach der Hüft-Operation ist, sollte auch sie zuvor evaluiert werden. Hilfreich sind laut der Referentin präoperative Scores wie der Nottingham Hip Fracture Score oder der Risk Analysis Index. Viele klassische Tests zur Frailty-Bestimmung – etwa Chair-Rise oder 5-Minute Walking Test – seien in dieser Patientengruppe zwar nicht durchführbar. Alternativen seien jedoch die Handkraftmessung, Bildgebung oder validierte Skalen. Auch ein Delir müsse präoperativ bedacht und postoperativ konsequent verhindert werden.
Prof. Guasti betonte zudem, dass Frailty nicht unveränderlich ist. Durch gezielte Ernährung, Bewegung und kognitive Unterstützung lässt sich die Gebrechlichkeit in subakuten Situationen teilweise zurückdrängen. «Das könnte in Zukunft ein zentraler Ansatz in geriatrischen Abteilungen werden», betonte die Referentin.
ESC Congress 2025, Session Cardiovascular diseases in older adults, 29. August – 1. September 2025, Madrid.