Medical Tribune
17. Feb. 2025Geringere Lebenserwartung

Menschen mit ADHS verlieren bis zu 9 Jahre

Erwachsene mit einer Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung (ADHS) leben kürzer, als sie sollten. Zu diesem Ergebnis kamen britische Forscher, die erstmals die Lebenserwartung mithilfe von Mortalitätsdaten von ADHS-Patienten untersuchten. Für Dr. Oliver Bilke-Hentsch, Luzerner Psychiatrie, könnte dies vor allem auf modifizierbare Faktoren wie mangelnde Versorgung, psychische Begleiterkrankungen und riskantes Verhalten zurückzuführen sein.

Erwachsene mit ADHS haben im schnitt deutliche Einbussen bei der Lebenserwartung.
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Die im Fachjournal British Journal of Psychiatry erschienene Studie (1) verglich erstmals die Lebenserwartung von Menschen mit Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung (ADHS) mit der von Personen ohne ADHS-Diagnose. Dazu zogen die Forscher Daten aus der Primärversorgung in Grossbritannien heran. Verglichen mit der Allgemeinbevölkerung verringerte sich bei diagnostizierter ADHS die Lebenserwartung bei Männern um rund sieben Jahre und bei Frauen um etwa neun Jahre.

Die Forscher sind der Ansicht, dass die Einbussen bei der Lebenserwartung wahrscheinlich nicht direkt auf ADHS zurückzuführen sind, sondern auf modifizierbare Faktoren wie mangelnde medizinische Versorgung, psychische Erkrankungen und ein erhöhtes Risiko für riskantes Verhalten.

Mortalitätsdaten zeigen reduzierte Lebenserwartung

Die britische Untersuchung basiert auf den prospektiv erhobenen Daten der Primärversorgung, wobei 30.039 Erwachsene mit ADHS und 300.390 Personen ohne die Diagnose eingeschlossen wurden. In der Kohorte hatten etwa 0,32 Prozent der Personen eine ADHS-Diagnose. Der grösste Neuigkeitswert der Studie ist, dass die Forscher erstmals mittels Mortalitätsdaten die Lebenserwartung berechneten.

Die Ergebnisse zeigen, dass Männer mit ADHS eine um 6,78 Jahre (95% CI: 4,50 bis 9,11) kürzere Lebenserwartung hatten im Vergleich zur Allgemeinbevölkerung. Bei Frauen reduzierte sich mit einer diagnostizierten ADHS die Lebenserwartung sogar um 8,64 Jahre (95% CI: 6,55 bis 10,91).

Zu den wichtigsten Limitationen der Studie gehört, dass zwar das Sterbedatum erhoben wurde, jedoch nicht die Todesursache, und dass keine Angaben zum sozioökonomischen Status oder der potenziellen Medikation des ADHS gemacht wurden. Zudem wird ein Grossteil der Betroffenen nicht diagnostiziert, sodass sich die Ergebnisse nicht auf die gesamte Population von Erwachsenen mit ADHS verallgemeinern lassen, schreiben die Autoren rund um Elizabeth O'Nions (1).

Häufig nicht diagnostiziert

Die geschätzte weltweite Prävalenz von ADHS bei Erwachsenen liegt bei 2,8 Prozent. Erstmals 1968 als «hyperkinetische Reaktion in der Kindheit» in das DSM aufgenommen, weiss man heute, dass ADHS bei mindestens der Hälfte der als Kind diagnostizierten Personen bis ins Erwachsenenalter bestehen bleibt. Ein signifikanter Anteil der Betroffenen bleibt jedoch undiagnostiziert – und erhält somit keine adäquate Unterstützung oder Behandlung.

Dabei geht ADHS mit vielfältigen gesundheitlichen, beruflichen und sozialen Nachteilen einher. So sind Erwachsene mit der Erkrankung häufiger arbeitslos, haben finanzielle Probleme und unterdurchschnittliche Bildungsabschlüsse. Ausserdem konnte man bei ihnen eine schlechtere körperliche und geistige Gesundheit nachweisen, sowie ein höheres Risiko, vorzeitig zu sterben.

Ein grosser Faktor könnte etwa das erhöhte kardiovaskuläre Risiko, und damit verbundene Risikofaktoren sein, ebenso wie ein erhöhter Suchtmittelkonsum und eine erhöhte Suizidrate.

Dringender Handlungsbedarf

Die britischen Forscher weisen darauf hin, dass ADHS in der Erwachsenenmedizin noch immer nicht ausreichend berücksichtigt wird. In Grossbritannien würden zudem spezialisierte Behandlungsangebote fehlen.

Neben ADHS-spezifischer Unterstützung empfehlen die Autoren eine vermehrte Sensibilität für körperliche und psychische Erkrankungen, die bei Menschen mit ADHS häufiger auftreten. Das schliesst etwa den rechtzeitigen Zugang zu Diensten für psychische Gesundheit und Raucherentwöhnung ein.

Risikofaktor ADHS

«Gut nachvollziehbare Ergebnisse» sagt Dr. Oliver Bilke-Hentsch, Chefarzt Kinder- und Jugendpsychiatrie und Mitglied der Geschäftsleitung Luzerner Psychiatrie auf Anfrage über die Studie. Für ihn signalisieren die Ergebnisse auch die Ernsthaftigkeit der Prognose des unbehandelten ADHS als langfristige Diagnose – mit viel Komorbidität.

«Wenn man sich mit den zusätzlichen Risikofaktoren bei ADHS beschäftigt, etwa der Dissozialität, risikoreichem Verhalten oder Drogenkonsum, erkennt man, dass der über lange Zeit unbehandelte ADHS-Patient ein insgesamt risikoreicheres, gefährlicheres Leben als der Durchschnittsbürger führt», betont auch Dr. Bilke-Hentsch.

Neben der externalen Seite ist in diesem Zusammenhang auch die internale Seite von Bedeutung, da sich viele ADHS-Patienten stark bemühen, normal zu funktionieren und gut zurechtzukommen. Das führt laut dem Experten oft zu hohem innerem Stress, der sich auch in erhöhten Cortisolspiegeln und vermehrter Entzündung äussert. «Dieser innere, parasympathisch vermittelte Stress kann langfristig sogar zu negativen Folgen wie einer höheren Infektanfälligkeit bis hin zu Tumorerkrankungen führen.»

Handlungsbedarf auch in der Schweiz

Auch in der Schweiz sieht Dr. Bilke-Hentsch einen Abfall der Behandlungszahlen ab dem 18. Lebensjahr. «Junge Erwachsene suchen sich oft Lebensumgebungen beim Studium, bei der Arbeit oder im Freundeskreis, wo das ADHS nicht mehr so sehr auffällt», berichtet der Experte. Das funktioniert auch einige Zeit – bis Lebensumstände oder Übergangsphasen eintreten, in denen das Leben komplexer wird, wie etwa nach einem Jobwechsel, Heirat oder Familiengründung, und die ADHS-Symptomatik wieder aufflammt.

«Das ist dann die Kunst der behandelnden Ärztin, herauszufinden, ob es sich um eine allgemeine Überlastung handelt, was in unserer Gesellschaft durchaus vorkommt, oder ob es etwas Spezifisches ist und der Patient in frühere, für ADHS charakteristische Verhaltensweisen zurückfällt», betont Dr. Bilke-Hentsch. Ein wichtiges Indiz für die Diagnose ist, wenn sich die Überforderung wie beim ADHS in allen Lebensbereichen zeigt.

Bestätigt sich der Verdacht, sollten Psychotherapie, Medikation oder eine Neujustierung der Lebensumstände und Stressfaktoren erwogen werden. «Hat ein Patient sein ADHS gut im Griff, wirkt es oft nicht mehr wie eine Krankheit, sondern als Neurodiversität – eine bestimmte Art, die Welt zu sehen und auf die Welt zu reagieren.»

Diagnostik und Therapie bei Kindern

Erkenntnisse aus der Schweiz zeigen, dass ADHS im Kindesalter mit einer deutlichen Häufung bei Jungen assoziiert ist, wobei vermutet wird, dass Mädchen seltener diagnostiziert und behandelt werden. Im Erwachsenenalter gleicht sich das Geschlechterverhältnis aus.

Die folgenden Ansatzpunkte helfen laut Dr. Bilke-Hentsch bei der Diagnostik in der Praxis:

  • Auf die Familienkonstellation achten: Inwiefern das Verhalten von Eltern oder Geschwistern einen Anhaltspunkt für ADHS liefern kann.
  • Den kleinen Patienten im Wartezimmer beobachten.
  • Prüfen, ob die schulische Leistung des Kindes mit seiner Intelligenz übereinstimmt.
  • Informationen bei Eltern und Lehrern mittels standardisierter Fragebögen einholen.

«Als Teil eines Therapiekonzepts hat die Medikation im Kindes- und Jugendalter eine grosse Wirkung, da ADHS als neurologische Entwicklungsstörung eine starke somatische Komponente hat», erinnert Dr. Bilke-Hentsch.