Medical Tribune
14. Feb. 2025Wie Gene und Umwelt zusammenspielen – und was das für die Therapie bedeutet

«Adipositas ist vererbbar – und gleichzeitig nicht unvermeidbar»

Die Forschung zur Adipositas ist geprägt von Durchbrüchen – und Rückschlägen. Trotz neuer Adipositasmedikamente bleibt das Thema weiterhin eine Herausforderung, wie eine Expertin berichtet.

Die Macht der Gene spielt bei der Adipositas eine entscheidende Rolle.
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Die «Macht der Gene» spielt bei der Adipositas eine entscheidende Rolle.

Weltweit sind über 600 Millionen Menschen von Adipositas betroffen – definiert als ein BMI über 30 (über eine mögliche Neudefinition wird derzeit diskutiert, wie wir kürzlich berichtet haben). Auch bei Kindern wird die Adipositas, die laut Schätzungen die Sterblichkeit um bis zu 40 Prozent erhöht, dabei zunehmend zum Problem.

«Adipogene» Lebensrealität

«Der Anteil der Menschen mit Adipositas ist in den letzten 50 Jahren explodiert,» sagt auch PD Dr. Eleonora Seelig, Leitende Ärztin am Kantonsspital Baselland (1). Diese Entwicklung lasse sich nicht mit genetischen Veränderungen erklären – dazu sei der Zeitraum viel zu kurz.

Für die Endokrinologin ist die rapide Zunahme ein klarer Beweis dafür, dass Adipositas nicht nur erblich determiniert, sondern stark durch Umweltfaktoren beeinflusst wird.

Dazu gehören etwa die immer gegenwärtigeren leicht verfügbaren, hochkalorischen Lebensmittel in unseren Supermärkten, und dass wir uns immer weniger bewegen. Und wer – auch nur in geringem Masse – über längere Zeit mehr Energie aufnimmt als er verbrennt, nimmt zwangsläufig zu.

Wie Gene das Körpergewicht regulieren

Heisst das, dass die Adipositas allein durch bewusste Ernährung und Bewegung vermeidbar ist? «So einfach ist das nicht,» betont PD Dr. Seelig. Denn nicht jeder reagiert gleich auf die gleiche Umgebung. Während manche Menschen ihr Gewicht mühelos halten, nehmen andere unter denselben Bedingungen deutlich zu.

Studien an Zwillingen belegten etwa schon ab den 1970er-Jahren, dass das Körpergewicht deutlich stärker von genetischer Veranlagung als von der Umwelt geprägt ist. Eineiige Zwillinge weisen eine Gewichtskonkordanz von 70 bis 90 Prozent auf – selbst wenn sie in unterschiedlichen Haushalten aufwachsen.

Die Gene steuern dabei vor allem drei Faktoren, die über das Körpergewicht bestimmen:

  • den Appetit,
  • das Sättigungsgefühl, und
  • den Energieverbrauch.

Diese Mechanismen werden in den Appetitzentren des Gehirns, insbesondere im Hypothalamus, reguliert.  

Hormone, die den Hunger steuern

Ein Beispiel für eines der kleinen Regulatoren, die für den Erhalt des Körpergewichts zuständig sind, ist das Hormon Leptin. Es wird im Fettgewebe produziert und signalisiert dem Gehirn, wie viel Treibstoff aktuell im Körper gespeichert ist. Fluktuationen im Leptinspiegel führen dazu, dass Menschen hungrig werden, und beginnen, nach einer Mahlzeit zu suchen. Dies dient primär dazu, den Energiebedarf des sehr energiehungrigen Gehirns zu decken, erklärt PD Dr. Seelig.

Fehlt das Hormon – wie bei seltenen genetischen Defekten – verspüren Betroffene ein unkontrollierbares Hungergefühl. Eine Behandlung mit Leptin kann in solchen Fällen zu einer drastischen Gewichtsreduktion führen.

Warum bislang alle Versuche, in der Appetitkontrolle einzugreifen, scheiterten

Die Entdeckung von Leptin wurde in den 1990er Jahren wurde als bahnbrechend gefeiert. Wissenschaftler aller Welt dachten, man habe die Adipositas bald besiegt. Die Erfahrung, die auch einige Pharmahersteller machen mussten: Bei «normaler» Adipositas hilft die Leptin-Therapie nicht. «Übergewichtige Menschen haben bereits hohe Leptin-Spiegel, weil sie viel Fettgewebe haben, in dem Leptin produziert wird. Das Problem ist eher, dass ihr Körper nicht mehr angemessen darauf reagiert – eine sogenannte Leptinresistenz.» Heute verstehe man die Signalaktivierung von Leptin etwas besser und wisse auch, warum die Leptin-Supplementierung bei der normalen Adipositas nicht funktioniere, so die Expertin

Neben Leptin scheiterten aber auch andere Versuche, medikamentös an der Appetitregulation anzugreifen. An Kongressen höre man nebenbei gelegentlich von gescheiterten Studien, deren Daten grösstenteils nicht veröffentlicht sind, sagt PD Dr. Seelig; «immer ein schlechtes Zeichen.» Die erste Ausnahme könnten die nun boomenden neuen Adipositasmedikamente wie die GLP-1-Analoga sein, die ebenfalls unter anderem auf Appetitzentren im Gehirn abzielen.

Genetisches Risiko vs. Lebensstil – was wiegt schwerer?

Wenn Patienten eine Adipositas entwickeln, liegt das meist nicht an der Dysfunktion einzelner Gene wie im Beispiel der Leptin-Defizienz. Bei den meisten Betroffenen liegt hingegen eine polygene Vererbung vor. Das bedeutet, dass eine Vielzahl von kleinen genetischen Veränderungen im Erbgut vorliegen, die gemeinsam das Risiko für Übergewicht beeinflussen. Betroffen sein können etwa Gene, die für die Regulation des Appetits oder des Stoffwechsels wichtig sind. «Je mehr solcher Risikovarianten eine Person hat, desto höher die Wahrscheinlichkeit, dass sie im Laufe ihres Lebens eine Adipositas entwickelt» erklärt PD Dr. Seelig. Die Forschung gehe heute von einer Vererbbarkeit der Adipositas von bis zu 70 Prozent aus.

PD Dr. Seelig verweist in dem Zusammenhang auf eine 2024 erschienene Forschungsarbeit im hochkarätigen Journal Cell Metabolism. Darin sequenzierte man das Genom von über 300.000 Teilnehmern aus der UK Biobank, und verglich das Ergebnis mit dem Lebensstil der Teilnehmer, sowie mit deren BMI.

Die Studie zeigt, dass Menschen, die viele Mutationen tragen, die eine Gewichtszunahme begünstigen, auf einem «höheren Ausgangsniveau» in Richtung einer Adipositas starten. Im Gegensatz zu Menschen mit einem niedrigen genetischen Risiko haben sie ein zweifach höheres Risiko für die Erkrankung – auch bei gesundem Lebensstil. Eine Kombination aus hohem genetischem Risiko und ungesundem Lebensstil führt dabei fast unweigerlich zur Adipositas, sagt PD Dr. Seelig.

Damit sei aber auch bewiesen, dass sich die Adipositas trotz ihrer Vererbbarkeit durch Umwelt- oder durch Lifestyle-Modifikation beeinflussen lässt, fasst die Expertin die gute Nachricht der Studie zusammen.

Ozempic, Wegovy & Co.: Ein Gamechanger für die Adipositas?

Während genau diese Lifestyle-Modifikationen vor einigen Jahren noch der Goldstandard der Adipositas-Therapie waren, nehmen seit einigen Jahren die neuen Adipositas-Medikamente zunehmend diesen Platz ein.

Besonders vielversprechend sind GLP-1-Analoga wie Semaglutid, das je nach Indikation den Handelsnamen Wegovy bzw. Ozempic trägt. Die neuen Medikamente senken den Appetit und führen zu einer durchschnittlichen Gewichtsreduktion von bis zu 15 Prozent.

Einen der grössten Vorteile der neuen medikamentösen Adipositastherapie sieht PD Dr. Seelig dabei darin, dass GLP-1-Analoga neben dem Gewicht auch innerhalb kürzester Zeit das Risiko für Herz-Kreislauf-Erkrankungen senken. Die Schweizer Zulassungsbehörden würden derzeit daher prüfen, ob Wegovy auch für Patienten mit hohem kardiovaskulärem Risiko und einem BMI über 27 freigegeben werden kann. Aktuell übernehmen die Krankenkassen hierzulande die Kosten hingegen nur unter strengen Bedingungen (BMI über 35 bzw. BMI über 28 mit Adipositas-assoziierten Begleiterkrankungen).

Doch die neuen Medikamente sind keine Wunderwaffen, erinnert PD Dr. Seelig: Ein grosses Problem der neuen Wirkstoffe ist etwa, dass die Behandlung zur Abnahme der Muskelmasse führen kann. Daher sollten Patienten begleitend auf eine hohe Proteinzufuhr und gezieltes Muskeltraining achten.

Darüber hinaus sind GLP-1-Analoga derzeit für eine maximale Therapiedauer von drei Jahren vorgesehen. Was nach den drei Jahren passieren soll, ist derzeit noch recht unklar, denn nach dem Absetzen der Medikamente kommt es meist dazu, dass Patienten das abgenommene Gewicht wieder zunehmen.  PD Dr. Seeligs eigene Erfahrungen mit Patienten zeigt aber, dass das kein Schicksal sein muss: «Einige schaffen es mit gezielter Ernährung und Sport, das Gewicht nach dem Stopp der GLP-1-Analoga auch längerfristig zu halten.»