Erfahrungsbericht: Glukose-Transporter-1 (GLUT1)-Defekt
Leo (6) und Emilia (11) zeigten bereits im Alter von einigen Monaten Symptome wie eine Störung der Augenbewegung oder epileptische Anfälle. Nach zum Teil mehrjährigen Umwegen erhielten sie die Diagnose Glukose-Transporter-1 (GLUT1)-Defekt. Mit der Einstellung auf die ketogene Diät erlebten beide Kinder einen enormen Entwicklungsschub. Unterstützung und Begleitung im Krankheitsmanagement bekommen die Familien von Pädiaterin und Ernährungswissenschafterin PD Dr. Dipl. oec. troph. Sabine Scholl-Bürgi.

Leo Florineth mit seiner Mutter Maria Luise

Emilia Ölz
Der Glukose-Transporter-1 (GLUT1)-Defekt ist eine äusserst seltene Erkrankung, Epilepsie im Kindesalter dagegen sehr häufig: «Das ist der Hauptgrund, warum die Kinder lange auf Epilepsie behandelt werden», erklärt PD Dr. Dipl. oec. troph. Sabine Scholl-Bürgi, Geschäftsführende Oberärztin an der Universitätsklinik für Pädiatrie I im österreichischen Innbruck.
Etwa 15 Kinder und Erwachsene mit dieser Diagnose sind derzeit in Österreich bekannt, sechs der Kinder werden am Zentrum in Innsbruck behandelt.

Teresa Ölz, Mutter von Emilia
Die Eltern der Kinder sind bereits untereinander gut vernetzt und geben sich gegenseitig Tipps zum Krankheitsmanagement, berichten die Mütter von Leo, Maria Luise Florineth, und Emilia, Teresa Ölz, im Gespräch. So fiel beim heute sechsjährigen Leo ein «Augenrollen» erstmals im Alter von drei Monaten auf. Mit Beginn der Beikost im Alter von rund acht Monaten kam es zu epileptischen Anfällen, darunter auch Grand Mal-Anfälle. «Erst nach rund einem Jahr bekamen wir die Diagnose, unter anderem hiess es immer wieder ‹Wir beobachten›», schildert Florineth.
Eine noch längere Zeit bis zur Diagnose erlebte Familie Ölz mit der heute elfjährigen Emilia, bei der ebenfalls um die Zeit des Abstillens epileptische Symptome auftraten. Erst nach fünfeinhalb Jahren, vielen Klinikbesuchen und letztlich einer genetischen Untersuchung stand auch bei Emilia die Diagnose «Glukose-Transporter-Defekt 1» fest.
Alternativer Transportweg zur Versorgung des Gehirns
«Es ist gleichermassen so, als ob der Arlberg-Tunnel verschlossen wäre und keine Transporte durchkommen. Erst wenn eine zweite Tunnelröhre eröffnet wird, kann wieder Nahrung und damit Energie geliefert werden», erklärt PD Dr. Scholl-Bürgi das Prinzip der Therapie mit einer ketogenen Diät.
Mit bis zu 90 Prozent Fettanteil in der Nahrung werden Ketonkörper gebildet, die über einen anderen Transporter als Glukose ins Gehirn gebracht werden. Mit der Einstellung auf die ketogene Diät erlebten beide Kinder einen enormen Entwicklungsschub. «Leo konnte zuvor nicht einmal auf seinem Schaukelpferd wippen, nach der Einstellung schaukelte er praktisch durch die ganze Wohnung», erzählt Florineth.

Links: Ketogenes Menü, 2,5 Teile Fett und 1 Teil Nicht-Fett; plus ein Glas Öl
Rechts: Schokoküsse, ketogenes Verhältnis 3:1
«Wir nehmen die Einstellung immer in der Klinik vor, auch um die Eltern zu schulen und die Kinder im Hinblick auf eine mögliche Unterzuckerung zu beobachten», erklärt PD Dr. Scholl-Bürgi. Die Diagnose und damit die Therapiemöglichkeit bedeutet jedenfalls eine enorme Erleichterung und zugleich Motivation, sagt Ölz: «Ich überlege mir auch laufend neue Rezepte und richte die Mahlzeiten für Emilia so her, dass sie ganz ähnlich aussehen wir unsere.» Den Kindern erklären die Mütter die Notwendigkeit der Diät durch anschauliche Vergleiche: «Das ist wie bei Autos, die verschiedene Treibstoffe brauchen – und Leos besonderer Treibstoff ist Fett. Für Emilia war es im Volksschulalter ihr «Zauberessen", das ihr Energie gibt. Unter anderem trinken die Kinder sogar Öl zu den Mahlzeiten. Um Verstopfung vorzubeugen achten die Mütter auf die Zufuhr löslicher Ballaststoffe.
«Oft hören die epileptischen Anfälle mit der Umstellung auf, mitunter sind aber weiterhin begleitende Antiepileptika nötig», betont PD Dr. Scholl-Bürgi. Im Rahmen des Monitorings werden alle drei Monate Labor, klinische und EEG-Untersuchungen gemacht, weiters alle sechs bis zwölf Monate Ultraschall von Herz und Bauchraum. Vor allem sollen Herzrhythmusstörungen oder Nierenveränderungen durch eine zu hohe Kalzium-Ausscheidung rechtzeitig erkannt werden.

PD Dr. Dipl. oec. troph. Sabine Scholl-Bürgi, Geschäftsführende Oberärztin an der Universitätsklinik für Pädiatrie I in Innsbruck
Auch wenn die Zukunft der Behandlung und die Dauer der ketogenen Ernährung derzeit noch ungewiss sind, so steht für Ärztin und Mütter fest: Erst mit der richtigen und rechtzeitigen Diagnose gibt es für die Kinder und die Familien eine Chance, die Lebensqualität zu verbessern.
«Es ist wichtig, Red Flags wie das charakteristische Augenrollen zu erkennen. Kommen noch weitere Symptome wie Epilepsie dazu, so sollte eine genetische Untersuchung erwogen werden», meint PD Dr. Scholl-Bürgi. Gerade wo es eine Therapie-Option gibt, darf der Zeitpunkt des Beginns nicht verpasst werden. Auch eine Erstdiagnose im Erwachsenenalter ist möglich, hier fallen vor allem Bewegungsstörungen auf: «Fairerweise muss ich sagen, dass die Bewegungsstörungen schlechter auf die Ernährungstherapie ansprechen», so PD Dr. Scholl-Bürgi.
Glukose-Transporter-1-Defizienz-Syndrom (GLUT1DS; GLUT1 Deficiency Syndrome)
Das GLUT1-Defizienz-Syndrom wurde erstmals 1991 von dem US-amerikanischen Kinderneurologen Darryl De Vivo beschrieben. Er behandelte zufällig zwei Kinder gleichzeitig, bei denen ihm ein auffallend niedriger Liquor-Glukose-Spiegel auffiel. Die Ursache von GLUT1DS ist eine Mutation im SLC2A1-Gen, das für den Glukose-Transporter 1 (GLUT1) kodiert.
GLUT1, auch als Erythrozyten-/Hirn-Hexose-Facilitator bekannt, kann infolge dieser Mutation das Gehirn nicht ausreichend mit Glukose versorgen. Betroffene Kinder entwickeln häufig epileptische Anfälle, Bewegungsstörungen, Entwicklungsverzögerungen und Gedeihstörungen.
Die Therapie der Wahl ist eine ketogene Diät, die einen alternativen Stoffwechselweg zur Energieversorgung des Gehirns ermöglicht. Sie sollte so früh wie möglich eingeleitet werden und führt bei etwa 80 Prozent der betroffenen Kinder zu einer Reduktion der Anfälle um bis zu 90 Prozent, sodass die Einnahme von Antiepileptika oft nicht mehr erforderlich ist.
Ansprechpartnerinnen für Eltern:
Maria Luise Florineth und Teresa Ölz haben ein Kommunikationsnetz betroffener Eltern aufgebaut. Gerne geben sie ihre Erfahrungen und praktische Tipps zur ketogenen Diät weiter.
Kontakt: maria.florineth@gmx.net bzw. teresa.oelz@gmx.net