Medical Tribune
4. Juli 2023Vom Androgenitalen Syndrom bis zur Pubertas tarda

Störungen der sexuellen Differenzierung und Entwicklung erkennen

Adrenogenitales Syndrom, Pubertas tarda oder Gynäkomastie: Probleme der sexuellen Entwicklung oder Geschlechtsdifferenzierung schaffen Unsicherheit. Ein Experte zeigt auf, bei welchen Kindern und Jugendlichen zugewartet werden kann und wann weitere Abklärungen erforderlich sind.

Liegt eine Störung der sexuellen Differenzierung oder Entwicklung vor, führt das zu Verunsicherung.
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In der Erstbeurteilung von Neugeborenen ist das Adrenogenitale Syndrom die wohl wichtigste Pathologie, wenn beim Kind die sexuelle Differenzierung gestört ist, erklärt Professor Dr. Urs Zumsteg, Konsiliararzt Endokrinologie / Diabetologie Universitäts-Kinderspital beider Basel (1). In der Schweiz wird das Adrenogenitale Syndrom daher bei Neugeborenen mittlerweile routinemäs­sig gescreent. Dadurch werden hierzulande jährlich etwa sieben bis neun Kinder neu diagnostiziert.

Das Klinefelter- und Turner-Syndrom treten hingegen noch etwas häufiger auf. Beide Syndrome haben aber im Allgemeinen beim Neugeborenen keine unmittelbare Konsequenz. Im Verlauf werden lediglich weitere Abklärungen geplant. Das Adrenogenitale Syndrom hingegen stellt laut Prof. Zumsteg mehr oder weniger eine «Notfallsituation» für eine Therapie dar.

Adrenogenitales Syndrom: Enzymdefekt reichert Andogene an

Ursache des Adrenogenitalen Syndroms ist ein autosomal rezessiv vererbter Enzymdefekt, der in der Nebennierenrinde zu einer herabgesetzten Kortisolsynthese und einer erhöhten Produktion von Adrenokortikotropin und Androgenen führt.

Mädchen mit Adrenogenitalem Syndrom weisen als Neugeborene bereits Zeichen einer Maskulinisierung auf. Diese reichen von leichter Schambehaarung über Klitorishypertrophie und fusionierten Labien bis hin zu einem Sinus urogenitalis. Bei einem Sinus urogenitals besteht laut Prof. Zumsteg schon früh die Gefahr von schweren Harnwegsinfekten und Pyelonephritiden. Deshalb wird unter Umständen früher ein operatives Procedere vorgeschlagen.

Knaben haben bei Geburt keine oder kaum Symptome. Bei ihnen wird ein Adrenogenitales Syndrom daher meist erst zwischen zwei und sechs Jahren diagnostiziert – wenn sie wegen einer Pseudopubertas praecox auffällig geworden sind.

Gefährliche Addisonkrise beim Neugeborenen

«Gefährlich wird das Adrenogenitale Syndrom aber bei Neugeborenen in Stresssituationen wie in einer ersten Fieberperiode, wenn es zu einem Aldosteron- und Salzverlust und einer Addisonkrise kommt», so der Experte.

Kinder mit Adrenogenitalem Syndrom werden nach ihrem chromosomalen Geschlecht aufgezogen. Denn korrekt behandelt, haben sie als Erwachsene eine normale Gonadenfunktion. Die Therapie beinhaltet eine lebenslange Hydrocortison-Substitution, meistens in Kombination mit Mineralkortikoidersatz.

Zu frühe und zu späte Pubertät

Für Unsicherheit in der Praxis sorgen auch Pubertätsstörungen, wie eine prämature Thelarche. Sie ist definiert als eine persistierende physiologische neonatale Brustentwicklung («Hexenbrüstchen») oder ein neues ein-/beidseitiges Brustwachstum vor dem achten Lebensjahr.
Die Abklärung erfolgt primär klinisch. Im Zentrum steht laut Prof. Zumsteg die Suche nach weiteren Pubertäts- und Östrogenifizierungszeichen wie Fluor vaginalis, das Bestimmen der Wachstumsgeschwindigkeit sowie der (eventuell auch sonografische) Ausschluss eines Tumors oder einer Ovarialzyste.

«Besteht nur eine Thelarche, kann zugewartet werden», so der Experte. Das Kind muss aber alle drei Monate untersucht werden, um den Übergang in die Pubertas praecox nicht zu verpassen. Eine schnell voranschreitende Pubertas praecox erfordert eine Abklärung.

Bei Pubertas tarda zwischen primärem und sekundärem Hypogonadismus unterscheiden

Bei einer Pubertas tarda ist zwischen primärem und sekundärem Hypogonadismus zu unterscheiden. Hinter der primären Form kann sich ein Turner- oder Klinefelter-Syndrom verbergen oder eine Vorgeschichte mit einer Bestrahlung, Chemotherapie, einem Hodentrauma oder einer -torsion. Sie geht früh mit erhöhten Gonadotropinen einher.

Der sekundäre Hypogonadismus ist deutlich häufiger als die primäre Form. Dahinter steckt meist nur eine konstitutionelle Entwicklungsverzögerung. «Das ist keine Pathologie. Die Kinder sind lediglich ‹Spätzünder›», erklärte Prof. Zumsteg. In der Schweiz betrifft dies sogar etwa 15 bis 18 Prozent der Knaben.

Weitere Ursachen für einen sekundären Hypogonadismus können chronische Erkrankungen, Ernährungsstörungen, ADHS unter zentraler Stimulation oder auch Tumore, Entzündungen und ZNS-Missbildungen sein.

Bei Gynäkomastie das Hodenvolumen kontrollieren

«Eine Gynäkomastie ist häufiger physiologisch als pathologisch», erklärt Prof. Zumsteg. Neugeborene etwa haben nicht selten hormonell bedingt vorübergehend eine palpable Brustdrüse. Auch ein Austritt von milchiger Flüssigkeit ist möglich. In der Pubertät haben 40 Prozent der 14-jährigen Jungen eine Gynäkomastie. Bei den allermeisten bildet sie sich innert Jahren von selbst zurück.

«Bei einer palpablen Brustdrüse in der Pubertät muss das Hodenvolumen kontrolliert werden», betont Prof. Zumsteg. Ein infantiles Hodenvolumen von 1–3 ml ist verdächtig, da es zu klein ist, um für die Induktion der Pubertät genügend Testosteron zu produzieren. In diesem Fall können ein Klinefelter-Syndrom oder auch ein Tumor, Medikamente sowie toxische Substanzen wie Alkohol und Rauschgift ursächlich sein.

Behandelt wird eine Gynäkomastie nur, wenn sie kosmetisch stark stört und ein grosser Leidensdruck besteht. Hierfür steht einzig die Chirurgie zur Verfügung. Medikamente haben sich nicht durchgesetzt», führte Prof. Zumsteg aus.