Genderdysphorie: Der schwere Weg zu sich selbst
Die Geschlechtsidentität lässt sich nicht ausschliesslich in «Mann» und «Frau» einteilen. Ein Experte fasst zusammen, welche Folgen Genderdysphorie für die Medizin und den Praxisalltag hat.
Das Thema Genderdysphorie oder die Diskordanz zwischen dem biologischen Geschlecht und dem psychologischen Empfinden hat in Gesellschaft und Medizin stark an Bedeutung gewonnen. Allein die Publikationen zum Thema Transidentität haben in den letzten Jahren exponentiell zugenommen. Von der US-amerikanischen endokrinologischen Gesellschaft existiert mittlerweile eine Guideline zur Behandlung der Transsexualität.
Nicht mehr als pathologisch angesehen
Das wachsende Wissen und Verständnis über Genderdysphorie hat zu einer Ent-Pathologisierung des Phänomens geführt, erklärt Professor Dr. Urs Zumsteg, Konsiliararzt Endokrinologie/Diabetologie am Universitäts-Kinderspital beider Basel. So ist nach ICD-11 eine Geschlechtsinkongruenz nicht mehr eine psychische Störung, sondern eine Normvariante innerhalb der nichtbinären Geschlechtervielfalt.
«Trotzdem übernehmen die Krankenkassen die Kosten für die Therapien» sagt der Experte. Im Fokus steht der Leidensdruck infolge einer Geschlechtsinkongruenz und der starke Wunsch, einem anderen Geschlecht anzugehören.
«Genderdysphorie hat eine hohe Assoziation mit psychischen Erkrankungen, wie Depression, Selbstschädigung, Suizidalität und Essstörungen» betont Prof. Zumsteg. Diese Korrelation ist ein Hauptgrund, warum Trans-Jugendliche engmaschig psychologisch-/psychiatrisch begleitet und stets multidisziplinär betreut werden sollten.
Nur ein Prozent will zur alten Identität zurück
«Für das medizinische Fachpersonal stellen sich bei Trans-Jugendlichen verschiedene Fragen, zum Beispiel wer die Diagnose stellt, ob, wann und wie irreversible Prozeduren durchgeführt werden sollen und wann Zuwarten vielleicht die bessere Option ist», so der Referent.
Ärzte stehen im Alltag auch oft vor einem Dilemma. «Einerseits wollen wir den Jugendlichen ihr Recht auf Selbstbestimmung gewähren, andererseits wollen wir sie aber auch vor einem Fehlentscheid schützen. Auch die Verweigerung einer Behandlung kann irreversible negative Effekte für die Jugendlichen haben», sagt Prof. Zumsteg.
Verlässliche Zahlen zur Genderdysphorie bestehen keine. Vermutlich sind 1,2 bis 2,7 Prozent aller Jugendlichen und 0,4 bis 0,6 Prozent der Erwachsenen von einer Geschlechtsinkongruenz betroffen. Nicht alle Betroffenen leiden unter der Transidentität. Drei Viertel der Jugendlichen haben einen starken Leidensdruck und sind suizidal oder depressiv. Vier Fünftel wünschen sich eine Hormon-, deutlich weniger eine chirurgische Behandlung.
Zu ihrer alten Identität zurück wollen nach einer OP weniger als ein Prozent. «Genderdysphorie impliziert nicht, ob Jugendliche homo- oder heterosexuell sind», so der Hinweis von Prof. Zumsteg.
Pubertätsblockade ist reversibel
Eine endokrinologische Behandlung startet bei Jugendlichen mit einem Pubertätsblocker, einem GnRH-Analogon, und in einem allfälligen zweiten Schritt mit geschlechtsangleichenden Hormonen. «Die Pubertätsblockade bringt den Jugendlichen Zeit, sich mit der Geschlechtsidentität auseinanderzusetzen. Denn die Effekte sind reversibel», erklärt Prof. Zumsteg. Auch bleibt Zeit, einen ersten Langzeittherapieplan auszuarbeiten.
GnRH-Analoga gelten als sicher. Sie werden bei Jugendlichen mit einer Pubertas praecox seit den 1960er-Jahren eingesetzt. «Diese Medikamente sollten aber erst eingesetzt werden, wenn die Pubertät tatsächlich begonnen hat: bei Mädchen ab Tanner-Stadium 2 und bei Knaben ab einem Hodenvolumen von 4 ml», betont der Referent.
Die Verträglichkeit von GnRH-Analoga ist im Allgemeinen gut. Allerdings kann die Pubertätsblockade transient die Knochendichte reduzieren. Die Frakturrate scheint aber laut Prof. Zumsteg nach bisherigen Erkenntnissen langfristig nicht erhöht zu sein. Auch die Fertilität ist vorübergehend beeinträchtigt.
Die Wirkung tritt rasch ein. Bei Mädchen bleibt meist schon nach der ersten Spritze die Menstruation aus. Unbekannt ist, ob die Therapie bei den Jugendlichen durch den Wegfall der Sexualhormone Effekte auf die Gehirnentwicklung hat.
Auch an die Fruchtbarkeit denken
Die Nebenwirkungen einer Behandlung mit geschlechtsangleichenden Hormonen – Östrogen, Testosteron – sind ein erhöhtes thromboembolisches Risiko bei Männern und eine Erhöhung des Hämatokrits bei Frauen. «Diese unerwünschten Wirkungen führen jedoch in der Regel nicht zu einer Therapiesistierung», erklärte der Experte.
Transgender-Jugendliche sind unter einer Hormontherapie immer engmaschig zu kontrollieren. Ihnen wird auch Guideline-gerecht eine Fertilitätssprechstunde empfohlen. «Denn die Hormonbehandlung ist nicht voll kontrazeptiv und ihre Langzeitwirkung auf die Fertilität ist noch nicht bekannt», führte Prof. Zumsteg aus.
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