Medical Tribune
19. Juni 2023Der Knappheit an Nierenspenden entgegenwirken

Der Schweiz fehlt es an Organspenden

Schweizweit warten rund 1.400 Patienten auf eine Nierenspende. PD Dr. Daniel Sidler, Nephrologe am Inselspital in Bern erklärt, was noch getan werden sollte, um mehr Transplantationen anbieten zu können. Dazu gehört auch, die Lebenszeit von Transplantaten zu verbessern.

Mehr Konzepte werden benötigt, um den Mangel an Organspenden zu decken.
sturti/gettyimages

«Der wichtigste Grund, warum Nierenspenden derzeit ein knappes Gut sind, liegt an der begrenzten Lebensdauer des Organs». Das erklärt PD Dr. Daniel Sidler, leitender Arzt der Nephrologie und Hypertonie am Inselspital Bern (1).

Nach einer Transplantation liegt das mediane Überleben eines Transplantats bei nur etwa zehn bis zwölf Jahren. Danach benötigen die Patienten weitere Transplantationen – von Spendernieren, die aktuell nicht vorhanden sind.

Warten auf die Widerspruchslösung

«Zurzeit haben wir rund 160 bis 170 Organspender pro Jahr – mathematisch also rund 320 Nieren für die Transplantation. Das ergibt eine Zahl von 19 Spendern pro Million und Jahr, damit liegen wir im europäischen Umfeld im unteren Drittel», sagt der Experte. Abhilfe schaffen soll die Widerspruchslösung, über die die Schweizer vergangenes Jahr abgestimmt haben, und die 2025 in Kraft treten soll.

Doch bis dahin ist weiterhin nur derjenige Organspender, der sein Einverständnis ausdrücklich gibt. PD Dr. Sidler berichtet, dass sich Transplantationsmediziner nach dem Referendum erhofft hatten, dass die mediale Aufmerksamkeit zu einer Zunahme der freiwilligen Spender führen würde.

Bislang sei das wohl noch nicht der Fall: «In den Schweizer Intensivstationen wurde keine merkliche Zunahme von Spenderorganen verzeichnet.» Das zeigt für den Experten auch, dass es für die Rekrutierung neuer Spender nicht ausreicht, Hausärzte zur Öffentlichkeitsarbeit zu verpflichten. «Wenn beispielsweise in der Gemeinde Embrach mit 10.000 Einwohnern ein Hausarzt alle seine jährlichen Patienten über die Organspende aufklärt, kommen bei der aktuellen Entwicklung nur 0,19 neue potenzielle Spender heraus».

Elektronische Warteliste matcht Spender und Empfänger

Wurde früher händisch Buch darüber geführt, wer auf eine Organspende wartet, ist dieser Vorgang mittlerweile gänzlich durch eine schweizweite, zentralisierte elektronische Liste abgelöst worden, erklärt der Experte. Diese hat die Praxis der Patientenselektion stark verändert. «Früher wurden gut geeignete Patienten unabhängig von der Wartedauer und der Priorität ausgewählt. Heute wird neben dem HLA-Match von Spendern und Empfängern danach gewichtet, wie lange ein Patient bereits wartet.»

Etwa 350 Patienten kamen in den letzten vier Jahren für eine Nierentransplantation auf der Warteliste hinzu. Rund die Hälfte ist bereits transplantiert. Eine Schweizer Erfolgsgeschichte, wie PD Dr. Sidler berichtet. «In Deutschland wartet man zwölf Jahre auf ein Organ, in der Schweiz drei bis vier Jahre.»

Dabei bleibt nicht jeder potenzielle Empfänger auf der Warteliste: Rund 15 Prozent der Empfänger wurde während der Wartezeit von der Liste gestrichen. Dazu gehören Menschen, die etwa keine guten Transplantationskandidaten waren oder während der Wartezeit schwer krank wurden oder verstarben. Das betrifft nicht nur die Niere: «Bei Herz- oder Lebertransplantationen sind die Zahlen noch dramatischer, da die Morbidität und auch die Mortalität der zugrundeliegenden Erkrankungen extrem hoch ist.»

Und auch auf der Spenderseite konnten von den 650 evaluierten Spendern auf der Liste in den letzten vier Jahren nur rund 70 Prozent der verfügbaren Organe transplantiert werden. Beim Rest gab es beispielsweise Bedenken hinsichtlich der Qualität der Organe.

Lebendtransplantation hat gewichtige Vorteile

Eine Alternative zur klassischen Organspende ist, zumindest bei der Niere, die Lebendspende. «Eine Lebendtransplantation hat vor allem immunologische Vorteile», so PD Dr. Sidler. So sind die Organe bei einer Lebendspende für gewöhnlich von besserer Qualität.

Und auch die Blutgruppe spielt bei dieser Transplantationsform eine untergeordnete Rolle: Muss eine Transplantation von der Warteliste Blutgruppen-identisch durchgeführt werden, werden bei der Lebendspende auch AB0-kompatible Spender mit anderer Blutgruppe akzeptiert. Mit einer Anpassung der Medikation werden routinemässig seit rund 15 Jahren auch AB0-inkompatible Transplantationen durchgeführt.

Aufgrund des medizinischen Fortschritts birgt eine Nierenspende heute nur mehr ein sehr geringes Risiko, so der Experte. «Heute führen wie die allermeisten Operationen laparoskopisch in einer einstündigen Operation durch.»

Insgesamt verbringt der durchschnittliche Spender dazu rund zwei bis vier Tage im Spital. Nach vier bis sechs Wochen Rehabilitation ist eine Nachkontrolle etwa alle ein bis fünf Jahre notwendig. Die entstehenden Kosten werden dabei durch die Versicherung des Empfängers gedeckt.

Lebendspende: Exzellente Prognose für Spender und Empfänger

Die Langzeitresultate am Berner Inselspital zeigen, dass es fast jedem der rund 300 Spendern nach wie vor gut geht. «Im fast 40-jährigen Beobachtungszeitraum gibt es einzelne Spender, die hochbetagt sterben, aber nach der Rehabilitation sehen wir praktisch keine medizinischen Probleme – auch nicht die Notwendigkeit einer Dialyse.»

Und auch auf der Empfängerseite ist das Fünfjahres-Überleben wesentlich besser nach einer Lebendspende – dennoch wird auch bei dieser Transplantationsform langfristig das Organ abgestossen. Obwohl Transplantationsmediziner die Lebendspende also mittlerweile bevorzugen, führt diese nicht zu einer langfristigen Heilung, erinnert der Experte.

So ist beim Empfänger auch bei einer Lebendspende eine permanente Immunsuppression, sowie fortwährende Kontrolluntersuchungen notwendig. Im Durchschnitt kommen Empfänger einer Spenderniere nach 10-12 Jahren wieder an die Dialyse oder benötigen weitere Transplantationen.

Um ein gutes Transplantationsergebnis zu erhalten, erfolgt auch bei den Spendern eine strenge Selektion. Eine Vorgeschichte mit kardiovaskulären Ereignissen oder Diabetes sind etwa Gründe, die eine Organspende ausschliessen. Damit eine Niere gespendet werden kann, sollte die glomeruläre Filtrationsrate (GFR) ausserdem deutlich über 80 liegen.

«Wir benötigen weitere Strategien, um den Bedarf zu decken»

Eine Strategie, um mehr Organe für die Spende zu erhalten, ist die Erweiterung der möglichen Spender auf marginale Donoren. Dazu gehören Menschen, die über 70 Jahre alt sind (Senior-Spender). Bei ihnen ist das Ergebnis allerdings meist schlechter als bei Transplantationen von Organen von jüngeren Spendern. «Oft bedeutet das, dass man die Probleme weit nach vorne verschiebt, und bereits nach zwei bis drei Jahren über eine erneute Transplantation oder Dialysepflichtigkeit sprechen muss», erinnert PD Dr. Sidler.

Ein erhöhtes Risiko birgt bei der Nierenspende auch die Transplantation von Organspenden nach Hirntod durch Kreislaufstillstand («Donation after cardiac death», DCD). «Bei der Transplantation von heiklen Organen vor allem auf sehr kranke Empfänger, etwa ohne Resturin, sieht man ein deutlich höheres perioperatives Risiko von bis zu 25 Prozent relevanten und schweren Komplikationen. Hier müssen wir gut selektionieren, welche marginalen Organe wir nützen können, um aus kranken Empfängern keine schwer kranken zu machen.»

Bei den DCD-Organen schreitet die Entwicklung der Perfusionstechniken voran, bei der die Organe mit Spenderblut bei 37 Grad perfundiert werden, berichtet PD Dr. Sidler. Und auch präoperative Qualitätskontrollen mittels Biopsien und die Anwendung von Antikörpern, um Ischämien vorzubeugen verbessern das Transplantationsergebnis. «Damit gelingt es vielleicht, Organe, die auf dem Papier schlecht aussehen, besser zu selektionieren, um eine gute Transplantation zu erzielen» so PD Dr. Sidler.

Schwein als Organspender

Auch im Bereich der Transplantation von tierischen Organen in den Menschen werden aktuell bahnbrechende Erfolge erzielt. Letztes Jahr gelang beispielsweise die erste erfolgreiche Transplantation eines Schweineherzen an einen hirntoten Menschen. «Bisher war bei Xenotransplantationen nicht die klassische Abstossung das Problem» erklärt PD Dr. Sidler. «Stattdessen führt bei einer Xenotransplantation üblicherweise das Komplementsystem zu einer Abstossung innert Minuten.» Mittlerweile gibt es aber Triple-Knockout-Schweine, in denen alle für die Abstossungsreaktion relevanten Komplementelemente gezielt ausgeschaltet wurden. In den kommenden Jahren wird für PD DR. Sidler daher wohl öfter die Transplantation von Schweineorganen versucht werden.

Mögliche Probleme könnten dabei neben ethischen Fragen das Risiko von Infektionen mit Viren sein, die bei immunsupprimierten Patienten auch erst Wochen oder Monate nach der Transplantation auftreten können, so der Experte.

Organversagen der transplantierten Organe vermeiden

«Eine weitere Strategie, um dem Organmangel entgegenzuwirken, ist, die Nachsorge nach der Transplantation zu verbessern, um die transplantierten Organe länger funktionsfähig zu halten.

Die derzeit verwendeten Medikamente, wurden grösstenteils in den sechziger- bis achtziger Jahren entwickelt. Sie haben zum Teil schwerwiegende Nebenwirkungen und verursachen irreversible Folgeschäden. Die Calcineurin-Inhibitoren sind beispielsweise relativ toxisch und können zu kardiovaskulären Ereignissen und Nephrotoxizität führen. Verbesserungen seien daher dringend nötig», so der Nephrologe.

Weniger als zehn Prozent aller Empfänger bekommen im Moment in Bern das seit 15 Jahren verfügbare Biological Belatacept nach der Transplantation. Zu wenige, meint PD Dr. Sidler. Das Fusionsprotein der extrazellulären Bindedomäne des Checkpoint-Moleküls CTLA-4 auf T-Zellen, sowie einer modifizierten Fc-Domäne des humanen Immunglobulin G wirkt immunsuppressiv, verschlechtert aber die Nierenfunktion nicht. «Die Patienten behalten ihre Reserve oder verbessern sie sogar. Das führt dazu, dass wir die knappen Organe länger am Leben halten können.»

Gibt man Belatacept, verbessert sich nicht nur bei vielen Patienten die Nierenfunktion, sondern es kann auch der Blutdruck besser kontrolliert werden. Darüber hinaus verringert sich die Anzahl der einzunehmenden Tabletten, weil die Immunsuppression wegfällt. Obwohl es sich um einen neuen biologischen Wirkstoff handelt, sinken ausserdem die jährlichen Therapiekosten für die Behandlung. Ziel sollte für den Experten also sein, mehr Patienten mit diesem Medikament zu behandeln.