Fruktose: «Gesund ist da meist gar nichts»
Hersteller von Lebensmitteln haben sich dazu verpflichtet, den Zuckergehalt bestimmter Fertigprodukte zu senken. Trotzdem sehen Ernährungsberater in den letzten Jahren einen deutlichen Anstieg von Patienten mit Kohlenhydrat-Fehlernährung. Vor allem neue Risikogruppen und Kinder sind betroffen. Einen Teil der Schuld trägt die Fruktose, der neue Liebling der Lebensmittelindustrie.
«Der übermässige Konsum von Zucker und Weissmehlprodukten spielt nicht nur bei Übergewicht und Adipositas eine Rolle», sagt Ruth Ellenberger, Dipl. Ernährungsberaterin HF, SVDE, und Mitinhaberin des Ernährungszentrums Zürich (1).
Wieder mehr Kinder mit Karies
Auf das Konto der Extraportion Kohlenhydrate gehen noch viele andere Erkrankungen, darunter die Störung der Glukosetoleranz bis hin zum Typ-2-Diabetes. Kippt die Kalorienbilanz in Richtung von Einfachzuckern wie dem Haushaltszucker Saccharose, geht das immer auch zulasten notwendiger Lebensmittelbestandteile, etwa der Nahrungsfasern. Dann leidet auch das Verdauungssystem: Obstipation, Divertikel, oder schlimmstenfalls eine Divertikulitis sind die Folge.
Darüber hinaus trifft Ellenberger in den letzten Jahren vermehrt auf Menschen mit Stresserkrankungen, Schlafstörungen, einer Deregulation des Hunger-Sättigungsgefühles und dauernder Müdigkeit. All das können Ergebnisse von zuviel Zucker sein, so die Ernährungsexpertin. Besorgniserregend ist für sie auch, dass die Karies bei Kindern, die seit den 1980er Jahren stetig rückläufig war, wieder im Kommen ist. Heute haben Kinder und Jugendliche wieder häufiger kaputte Zähne.
«Unglaublich viel» Zucker im Joghurt
Rund 50 Gramm sollte laut Bundesamt für Gesundheit (BAG) die Obergrenze beim täglichen Zuckerkonsum sein – maximal zehn Prozent der täglichen empfohlenen Kalorienaufnahme also (siehe Kasten). Der durchschnittliche Schweizer nimmt aber 110 bis 115 Gramm Zucker pro Tag zu sich. «Das liegt unter anderem daran, dass Zucker einfach allgegenwärtig ist», erinnert die Expertin. So enthält ein typischer Fruchtjoghurt bereits zwischen 23 und 27 Gramm Zucker. «Das ist unglaublich viel», so Ellenberger.
Wieviel sind 50 Gramm Zucker?
Entweder: 1 Esslöffel Konfitüre, 1 normales Fruchtjoghurt, 2 Esslöffel Ketchup
Oder: eine halbe Flasche Cola
Bei Kindern beträgt die maximale Tagesdosis zehn Gramm Saccharose. «Das ist meist schon erreicht, wenn die Kinder einen Kinder-Fruchtriegel zu sich nehmen.» (siehe Kasten unten)
Zuckersenkung befeuert zuckerbedingte Erkrankungen oft indirekt
Dabei haben sowohl Gesellschaft und Politik, als auch die Industrie das Problem längst erkannt. Im Jahr 2015 verpflichtete sich die Schweiz in der Mailand-Charta, die Industrie dazu zu bewegen, den Zuckergehalt in definierten Fertigprodukten zu senken. Die Lebensmittelhersteller reagierten prompt, und boten eine Reduktion des Haushaltszuckers Saccharose bei bestimmten Frühstückscerealien von 15 auf 12,8 pro 100 Gramm bis Ende 2024 an. «Da hat sich dann auch tatsächlich etwas bewegt», so Ellenberger.
Obwohl sich damit der Gehalt an Haushaltszucker in den Frühstücksflocken und anderen – freiwilligen – Produktgruppen, wie Milchprodukten reduzierte, schmecken diese aber meist weiterhin so süss wie vorher. Ellenberger erklärt, dass die Lebensmittelindustrie auf die Saccharose-Senkung hin begann, den Haushaltszucker einfach durch Fruchtzucker zu ersetzen, um die Akzeptanz der Konsumenten nicht zu beeinträchtigen.
Und noch aus anderen Gründen entdeckten Lebensmittelhersteller die Fruktose als neues Lieblingskind: Denn ein Gramm des Einfachzuckers Fruktose hat eine um 20 Prozent höhere Süsskraft als ein Gramm des aus einem Glucose- und einem Frukosemolekül bestehende Zweifachzuckers Saccharose. «Ausserdem hat sich gezeigt, dass der Fruchtzucker auch sehr gute Eigenschaften bei der Lebensmittelverarbeitung hat – etwa was seine Viskosität anbelangt, was ihn zu einem idealen Binde- und Verdickungsmittel macht. Fruktose zuzusetzen ergibt häufig angenehme Konsistenzen.»
Fruchtzucker-bedingte Störungen bei früher kaum betroffenen Patienten
Doch nicht nur aus diesen Gründen ist der Fruchtzucker mittlerweile ein beliebter Lebensmittelzusatz. Auch werblich hat die «natürliche Süsse aus Früchten» Relevanz bei den zunehmend gesundheitsbewussten Konsumenten: Entsprechende Hinweise auf den vermeintlich «gesunden» Zucker finden sich mittlerweile überall – unter anderem auf Frühstücksflocken und Smoothies, aber auch auf Kinderprodukten wie Joghurts, Fruchtriegel und Fruchtbreien («Quetschis»).
Dabei macht ein kleiner Exkurs in die Verstoffwechselung der Fruktose durch den menschlichen Körper klar: Gesund ist da – meistens – gar nichts. Meistens deswegen, weil Fruktose in mässiger Form aufgenommen vom Körper als Energielieferant genutzt wird. «Der Fruchtzucker ist ja unter anderem auch in Gemüse und Früchten enthalten – neben Fasern, Wasser und anderen Bestandteilen. In dieser Kombination ist eine Fruktose-Aufnahme für gesunde Menschen meist unbedenklich», so Ellenberger.
Bedenklich ist hingegen die Aufnahme grosser Fruktose-Mengen auf einmal. Ein Beispiel ist das Trinken von Smoothies oder Fruchtsäften. «Durch das Pürieren der Frucht ist der Zucker im Smoothie schnell verfügbar. Trinkt man ihn, steigt der Blutzucker im Anschluss schnell und stark an.» Vom Haushaltszucker Saccharose unterscheidet sich die Fruktose ausserdem physiologisch darin, dass die Aufnahme von Fruktose keine Insulinausschüttung, und damit auch keine Freisetzung des Sättigungshormons Leptin auslöst. «Dadurch ist dann auch der Sättigungseffekt sehr eingeschränkt und wird primär über Magendehnung (Volumen) erreicht.»
Ernähren sich Menschen aber einerseits überkalorisch und nehmen andererseits Fruktose in hoher Konzentration zu sich, wird die Fruktose zur Fettbildung in der Leber herangezogen. Dadurch steigen die Triglyzeride im Blut an, und die viszerale Fettbildung wird angeworfen. Langfristig begünstigt das die Insulinresistenz in der Leber – am Schluss steht die nichtalkoholische Fettleber. «Da vermehrt Fruktose von der Industrie zugesetzt wird, sehen wir diese Störungen jetzt auch zunehmend bei untypischen Patienten, die bisher eher selten betroffen waren.»
Es trifft oft eigentlich gesundheitsbewusste Menschen
Das spiegelt sich auch in den Ernährungstagebüchern wider, die Ellenberger von ihren Patienten anfertigen lässt. «Viele eigentlich gesundheitsbewusste Patienten verwenden als Saccharoseersatz Fruktose-haltige Produkte wie Agavendicksaft, Kokos- und Palmblütenzucker, und greifen zu Riegeln oder Müslimischungen, in denen Dattel- und Bananenmehl, sowie Apfelsaftkonzentrat als Süssungsmittel aufgeführt werden.» Einen Vorwurf machen könne man diesen Menschen nicht, so Ellenberger. «Wie soll jemand ohne ein vertieftes Wissen merken, dass mit Produkten, die mit ‹natürlicher Süsse› beworben werden, etwas falsch läuft?»
Für die Expertin hilft nur, die Gesundheitskompetenz der Menschen zu stärken und sie über den gesundheitlichen Wert der vermeintlich gesunden Zuckeralternativen aufzuklären. Dazu gehört für sie auch, auf die Lebenssituation des Patienten einzugehen: «Kocht jemand nicht gerne, muss man eben gemeinsam suchen, welche Fertigprodukte es gibt, die eine ausgewogene Bilanz an Nahrungsmittelbestandteilen haben.» Diese gebe es jedenfalls.
Das Frühstücksbrot besser mit Käse als mit Konfitüre zubereiten
Ausserdem empfiehlt sie, darauf hinzuweisen, dass in jeder Mahlzeit auch Lebensmittel mit hohem Proteingehalt enthalten sein sollten. Denn Proteine sättigen, und bremsen den Blutzuckeranstieg. «Darüber hinaus hat der Körper keine Speichermöglichkeit für Aminosäuren, und muss mehrmals täglich Protein zu sich nehmen.» Statt dem «Schweizer Frühstück» bestehend aus Butterbrot mit Konfitüre sollte man etwa einmal probieren, Joghurt oder Quark mit Apfel oder Banane zu essen, oder das Brot stattdessen mit Käse zu belegen.
Mit einem einzigen Fruchtriegel erreicht ein Kleinkind die Tageshöchstdosis Zucker
Der Tageshöchstwert bei Kindern (2) ist schnell erreicht, so die Expertin. «Viele Produkte (z.B. Riegel, Joghurts, Fruchtbreie) geben als Einheitswert zehn Gramm Saccharose pro 100 Gramm an.» Oft reicht daher ein Fruchtriegel aus, damit ein Kleinkind auf seine maximale Tagesdosis von rund zehn Gramm Zucker kommt.
- Ellenberger R. Backwaren, Zucker und die vermeintlich gesunden (natürlichen) Süss-Alternativen I. Updates für Hausärztinnen und Hausärzte, Forum für Medizinfortbildung (FomF), 15. Mai 2023
- Müller B. Zuckerkonsum bei Kindern und Jugendlichen, Status Quo und Empfehlungen. 01.07.2020, Ernährung und Ernährungsmedizin, Pädiatrie Schweiz, abgerufen am 1. Juni 2023