Medical Tribune
1. Mai 2023Prof. Matthias Zumstein im Porträt

Er nimmt Probleme nicht auf die leichte Schulter

Früher spielte er Handball in der Schweizer Nationalmannschaft, heute behandelt er unter anderem Athleten, die sich eine schwere Verletzung beim Sport zugezogen haben: Der Orthopäde und Traumatologe Professor Dr. Matthias Zumstein aus Bern ist aber nicht nur im Operationssaal tätig, sondern widmet sich ergänzend rund einen Tag pro Woche der Forschung. Fast alles dreht sich bei ihm um die Schulter, ein sehr verletzungsanfälliges Gelenk.

Portraitfoto Prof. Matthias Zumstein vor Betonwand
zVg

Es sah nicht gut aus für Beat Feuz. Ein schwerer Knieinfekt machte dem aktuell besten Skifahrer in der Schweiz stark zu schaffen. Die Ärzte dachten bereits ernsthaft über eine Versteifung seines Gelenks nach. «Erst durch die Überweisung ins Inselspital zu PD Dr. Matthias Zumstein konnte ‹das Knie der Nation› schliesslich doch noch gerettet werden», lobte die Boulevardzeitung Blick.

Das war 2012. Matthias Zumstein arbeitete damals in Bern als Leitender Arzt an der Universitätsklinik für Orthopädische Chirurgie und Traumatologie. Er verantwortete die Abteilung Schulter, Ellenbogen und Sportorthopädie. In der Zwischenzeit hat der zum Professor Aufgestiegene noch unzählige weitere berühmte und weniger berühmte Menschen behandelt. Zur ersten Kategorie zählt auch er selbst.

Der heute 50-Jährige kann auf eine professionelle Sportkarriere als Handballer in der Schweizer Nationalmannschaft zurückblicken, nahm 1996 an den Olympischen Spielen in Atlanta teil – während seines Medizinstudiums. Seine Dissertation widmete er danach einem Thema aus der Sozial- und Präventivmedizin, nämlich dem psychosozialen Einfluss vom Schulsystemwechsel auf das Krankheitsbild eines Kindes.

Zur Weiterbildung nach Nizza statt nach Amerika

Im Gegensatz zu vielen Medizinern, die in der Forschung tätig sind, hat sich Prof. Zumstein nicht in den USA weitergebildet, sondern im französischen Nizza. «Ich wollte an einen Ort, der qualitativ überzeugt. Es gab in Nizza eine Kombination von sehr guter Wissenschaft und sehr guter orthopädischer Klinik mit hervorragenden Bedingungen», hebt er im Gespräch hervor. Für das «Gesamtcurriculum» sei es der richtige Entscheid gewesen, ebenso aus familiärer Hinsicht – seine Frau ist Französischlehrerin.

Als weiteren Abstecher für seine Weiterbildung in Ellbogen- und Handgelenkschirurgie wählte er Adelaide in Australien aus, wo er eine sehr gute Betreuung genoss. «Es nützt nichts, wenn man in einem grossen medizinischen Zentrum die Nr. 751 ist und sich niemand um einen kümmert.»

Bei Beat Feuz hat sich Prof. Zumstein ums das Knie gekümmert. Aber sein Spezialgebiet dreht sich um Ellenbogen und Schulter. «Die Schulter weist sehr viele Freiheitsgrade in den Bewegungen auf, ist dadurch allerdings auch sehr verletzungsanfällig», so der Ex-Handballer. Er spricht anschaulich von einem «Tennisball auf einem Flaschendeckel». Wenn die Balance zwischen Stabilität und Beweglichkeit wegen Verletzung oder Arthrose nicht mehr gewährleistet sei, bereitet dieser instabile Zustand im Alltag von Menschen grosse Probleme.

Im Gegensatz zum Knie- oder Hüftersatz ist ein Gelenkersatz bei einer Schulter allerdings viel seltener ein Thema. Mit einer Operation wartet man länger zu. «Der Leidensdruck, die Mobilitätseinschränkung, ist bei gesundheitlichen Problemen in Knie und Hüfte oftmals viel grös­ser», räumt Prof. Zumstein ein. Mit einer kaputten Schulter könne man noch laufen, nicht aber mit einem kaputten Knie oder einer lädierten Hüfte. Handlungsbedarf sei da häufiger schneller angesagt.

Manchmal ist ein chirurgischer Eingriff aber auch an der Schulter unumgänglich. Prof. Zumstein führt rund dreihundert Schulter­operationen pro Jahr durch und teilt seine Patientinnen und Patienten in drei Gruppen ein: einmal solche, bei denen sich eine Gefahr für eine Arthrose schon früh abzeichnet. Die zweite Gruppe umfasst Sehnenrisse, die unbehandelt eine Arthrose nach sich ziehen. Bei der dritten Gruppe handet es sich um Instabilitäten.

Ein Tag pro Woche für die Forschung

Warum aber beispielsweise reissen die Sehnen gewisser Menschen schneller als bei anderen oder besteht bei einigen eine grössere Disposition für eine Arthrose in der Schulter? Den Ursachen dafür auf den Grund zu gehen, hat Prof. Zumstein schon immer interessiert. Sie bilden denn auch den Schwerpunkt seiner Forschungsaktivitäten. Einen Tag pro Woche will er in der Forschung aktiv sein, hat er sich vorgenommen, auch wenn er bei dieser Tätigkeit finanziell gesehen weit weniger auf seine Kosten kommt als mit Sprechstundentätigkeit oder Operieren.

«Im Tiermodell konnten wir in Zürich unter Professor Dr. Christian Gerber zum ersten Mal die qualitative Verschlechterung der Muskel-Sehnen-Einheit durch eine mechanische Intervention stoppen», klärt er auf. Das war 2007. Rund zehn Jahre später gelang ihm und seinem Team in Bern und Zürich ein weiterer Erfolg in diesem Bereich. «Auf der biologisch-molekularen Ebene identifizierten wir Gene, die mitverantwortlich sind für die qualitative Verschlechterung der Sehnen und der Muskulatur.»

Zu diesem Zweck seien sogenannte «Knockout»-Mäuse kreiert worden. Bei diesen Mäusen werden mittels einer genetischen Manipulation an den embryonalen Stammzellen gezielt Gene deaktiviert. «Wir konnten beobachten, wie sich die Qualität von Muskeln und Sehnen trotz Riss nicht verschlechterte.» Anschliessende Versuche der Gen-Blockierung mit Futter waren das Ergebnis einer Kooperation mit Forschungs-Instituten in Los Angeles, Zürich und Bern.

Auszeichnung mit dem höchst dotierten Preis

Die internationale Fachwelt war beeindruckt. Gleich zweimal wurde Prof. Zumstein für seine Forschungsaktivitäten mit dem weltweit höchstdotierten Wissenschaftspreis der Schulterchirurgie, dem Charles S. Neer Award der ASES (American Shoulder and Elbow Surgeons) ausgezeichnet.

Der «Schönheitsfehler» an den Forschungserfolgen: Was im Tiermodell gelang, lässt sich «noch» nicht automatisch übertragen. «Wir haben noch keine reproduzierbare Methode gefunden, um das Gen beim Menschen zu blockieren», gesteht Prof. Zumstein ein. Denkbar sei zwar eine Behandlung mit einem Virus. «Aber kein Mensch will sich wohl wegen Sehnenproblemen an der Schulter ein Virus implantieren lassen», so seine Einschätzung. «Ich möchte das auch nicht.»

Moralisch-ethische Bedenken sind also durchaus am Platz. Hinzu komme, dass das Motiv, das einen derartigen Eingriff an der Schulter rechtfertigen würde, schlichtweg zu unbedeutend sei, so der Experte. Eine gerissene Sehne könne man ja schliesslich behandeln. «Wer jedoch nicht auch nach den Gründen sucht, warum eine Sehne reisst, leistet keine nachhaltige Forschung und ist als Forscher fehl am Platz», rechtfertigt er seine Bemühungen.

Antworten nach den Ursachen für gesundheitliche Probleme dieser Art hat er zum Teil gefunden. «Es sind gewisse morphologische Gegebenheiten, die jemanden anfälliger für einen Sehnenriss, für eine Instabiltiät oder eine Arthrose machen», ist er überzeugt. «Die Form des Schulterblatts und des Oberarms scheinen für die Stabilisierung des Schultergelenks mitentscheidend zu sein.» Dank den Möglichkeiten Künstlicher Intelligenz, patientenspezifischen Instrumenten und computergestützter Navigation lassen sich schon aktuell Fehlstellungen präzise operativ korrigieren.

Mehr Respekt für Mitarbeitende

Die Möglichkeiten der modernen Medizin sind das eine, deren Finanzierung etwas anderes. Dieses Thema treibt Prof. Zumstein schon seit geraumer Zeit stark um, auch als Vorstandsmitglied in der schweizerischen Gesellschaft für Orthopädie und Traumatologie sowie in der europäischen Gesellschaft für Schulter- und Ellenbogenchirurgie: Was für ein Gesundheitssystem wollen wir eigentlich? In welchen Bereichen sollen die finanziellen Mittel am sinnvollsten eingesetzt werden? Und was können wir uns überhaupt noch leisten?

«Wir haben in der Schweiz mit Abstand das beste Gesundheitssystem der Welt, nicht nur in der Tiefe, sondern auch in der Breite», ist er überzeugt. Jeder und jede hierzulande könne davon profitieren. Davon sei in den Medien leider viel zu wenig die Rede. Gleichzeitig macht er sich Gedanken darüber, dass nach wie vor horrende Summen in ­Behandlungen mit fraglichem Nutzen in puncto QALYs (quality-adjusted life-years) investiert werden – und dies bei einer demografischen Entwicklung, welche eine Optimierung der Ressourcen nahelegen würde.

Und wenn er sich zum Abschied etwas wünschen könnte? «Mehr Respekt und mehr Anerkennung der Leitungsgremien für diejenigen Mitarbeitenden, die in der Wertschöpfungskette in der Medizin letztlich die entscheidende Rolle spielen.» Damit meint er in erster Linie die Ärzteschaft, Pflegende, wie auch Physiotherapeutinnen und -therapeuten. Sie alle müssten viel stärker in wichtige Entscheidungsprozesse miteingebunden werden.

In Kürze

Prof. Matthias Zumstein etablierte sich nach seinem Medizinstudium als Spezialist für Schulter- sowie Ellenbogenchirurgie und forscht auch auf diesem Gebiet. Der 50-Jährige ist verheiratet und Vater zweier Töchter. Er lebt und arbeitet in Bern als Belegarzt in der Orthopädie Sonnenhof (Lindenhofgruppe), in der Sportsclinic Number 1 sowie als «Senior Consultant» im Inselspital.

Portraitfoto Prof. Matthias Zumstein
zVg

Prof. Matthias Zumstein Orthopädie Sonnenhof, Sportsclinic Number 1 und Inselspital, Bern