Medical Tribune
23. Nov. 2022Mehr Unterstützung ist gefragt

Zwischen Jugend- und Erwachsenenalter stockt die psychiatrische Versorgung

In der Transitionsphase zwischen Jugend- und Erwachsenenalter sind entwicklungsspezifische psychiatrische Angebote rar, kritisiert der Psychiater Dr. Stephan Kupferschmid. Das hat zum Teil desaströse Folgen – von Unterdiagnosen und -therapien bis zu limitierten Medikationsmöglichkeiten. Abhilfe schaffen würde etwa eine neue Fachdisziplin für diese wichtige Phase im Leben. Dafür gibt es in der Schweiz bereits Pilotprojekte.

Ab einem Alter von 18 Jahren beginnen bei der psychiatrischen Versorgung häufig die Probleme.
FotoDuets/gettyimages

Im Übergang zum Erwachsenenalter haben Adoleszente viele Entwicklungsaufgaben zu bewältigen. Sie stehen vor grossen Veränderungen und Herausforderungen, lösen sich von den Eltern ab, entwickeln Persönlichkeit, soziale Kompetenzen, übernehmen Verantwortung, setzen sich mit ihrer Zukunft auseinander. «All diese Prozesse in der Adoleszenz dauern heute wesentlich länger als früher», sagt Dr. Stephan Kupferschmid, Chefarzt für Psychiatrie für Jugendliche und junge Erwachsene, Integrierte Psychiatrie Winterthur-Zürcher Unterland*.

Altersgrenze von 18 Jahren nicht sinnvoll

Ursachen dafür sind unter anderem die heute deutlich vermehrten Wahlmöglichkeiten und die Rollenbilder, die vielfältiger geworden sind. «Das macht es manchen Jugendlichen schwerer, eine eigene Identität stabil zu kon­struieren», erklärt der Referent. Zudem dauert die Schul-Ausbildungszeit heutzutage länger, die jungen Erwachsenen sind länger finanziell abhängig, leben länger Zuhause und gründen später eine eigene Familie.

Für die psychische Gesundheit ist die Transitionsphase eine besonders kritische Zeit. Drei Viertel aller psychischen Störungen beginnen denn auch bereits vor dem 25. Lebensjahr (1). Zwangsstörungen, Schizophrenie, ADHS, Autismus-Spektrum-Störungen wie auch Angststörungen – all diese Probleme treten schon sehr früh auf und haben Auswirkungen über die gesamte Lebenszeit, so der Psychiater.

Die Altersgrenze von 18 Jahren, mit der Jugendliche juristisch über Nacht zu Erwachsenen werden, ist denn aus psychiatrischer Sicht wenig sinnvoll. «Sie berücksichtigt nicht die Entwicklung und die individuelle Reifung», erklärte der Experte. Die Gehirnentwicklung etwa ist erst mit ungefähr 25 Jahren abgeschlossen.

Insbesondere der präfrontale Kortex wird im Vergleich zum sensomotorische Gehirn erst sehr spät reif. «Das führt zu einer Imbalance zwischen der Entwicklung des Belohnungssystems und des inhibierenden System, was unter anderem Suchterkrankungen und emotional instabile Persönlichkeitsstörungen begünstigt.»

Unretardiertes Methylphenidat wird mit dem 18. Geburtstag zur Off-label-Anwendung

Trotz dieser biologischen Aspekte gelten mit 18 Jahren schlagartig andere juristische Regeln. Jugendliche mit psychischen Problemen wechseln zu diesem Zeitpunkt von der Kinder-/Jugend- in die Erwachsenenpsychiatrie. «Für sie sind auch plötzlich andere Medikamente zugelassen», erklärte Dr. Kupferschmid. So ist der Einsatz von unretardiertem Methylphenidat bei Patienten mit ADHS mit dem 18. Geburtstag mit einem Mal eine Off-label-Anwendung.

Der abrupte Wechsel von einem Versorgungssystem ins andere hat zum Teil gravierende Folgen. Wie Daten (2) zeigen, erhalten von den Adoleszenten, die mit 15 Jahren wegen ADHS medikamentös behandelt wurden, im Alter von 21 Jahren nur noch gerade zehn Prozent eine adäquate Therapie.

«Dies ist natürlich ein Problem», erklärte der Referent. Denn ADHS verschwindet meistens nicht von selbst im Erwachsenenalter. Die Störung präsentiert sich oft nur etwas anders (3). So sind Impulsivität und Hyperaktivität im Erwachsenenalter meistens nur noch wenig ausgeprägt, das Problem mit der Aufmerksamkeit hingegen besteht weiter. Hinzu kommt, dass 95 Prozent der Jugendlichen mit der Diagnose ADHS im Übergang zum Erwachsenenalter psychische und somatische Komorbiditäten entwickeln.

Um die Transition besser zu gestalten, schlagen Experten eine engere Zusammenarbeit zwischen Kinder-/Jugend- und Erwachsenenpsychiatern vor (4). Ausserdem sollten alle Fachleute, die Adoleszente therapieren, bereits ein Jahr vor dem 18. Geburtstag überlegen, ob der Jugendliche eine Weiterbehandlung braucht, und wenn ja, wie eine solche rechtlich und finanziell organisiert werden kann. Experten (5) fordern zudem die Schaffung einer eigenen Fachdisziplin für die Transitionsphase, wie es sie in Australien schon gibt (6).

Viele erste Pionierprojekte

In der Schweiz bestehen erste Pio­nierprojekte, mit der eine Brücke zwischen Jugend- und Erwachsenenpsychiatrie geschlagen wird. Dazu gehört das FETZ Bern, das Früherkennungs- und Therapiezentrum für psychische Krisen, wo UPD, Kinder-/Jugend- und Erwachsenenpsychiatrie bei Patienten zwischen acht und 40 Jahren mit Risikofaktoren für Psychosen zusammenarbeiten. «Doch es braucht sicherlich weitere Anstrengungen», sagte Dr. Kupferschmid, «auch weil die Adoleszenz der optimale Zeitpunkt für Veränderung und Prävention ist.»

Referenz

* Mepha-Symposium Psychiatrie und ­Somatik im Dialog 2022

  1. McGorry Patrick D. The reality of mental health care for young people, and the urgent need for solutions. Med J Aust. 2022 Feb 7;216(2):78-79. doi: 10.5694/mja2.51327
  2. Bachmann CH et al. ADHD in Germany: Trends in Diagnosis and Pharmacotherapy. Dtsch Arztebl Int. 2017 Mar 3;114(9):141-148. doi: 10.3238/arztebl.2017.0141
  3. Franke B et al. Live fast, die young? A review on the developmental trajectories of ADHD across the lifespan. Eur Neuropsychopharmacol. 2018 Oct;28(10):1059-1088. doi: 10.1016/j.euroneuro.2018.08.001
  4. Young S et al.  Avoiding the 'twilight zone': recommendations for the transition of services from adolescence to adulthood for young people with ADHD. BMC Psychiatry. 2011 Nov 3;11:174. doi: 10.1186/1471-244X-11-174
  5. Mc Gorry P et al. Designing and scaling up integrated youth mental health care. World Psychiatry. 2022 Feb;21(1):61-76. doi: 10.1002/wps.20938
  6. https://headspace.org.au