Prof. Hendrik Scholl: Blinde wieder sehend machen
Ein grössenmässig unscheinbares, aber für die Lebensqualität sehr wichtiges Organ spielt im Leben von Professor Dr. Hendrik Scholl eine zentrale Rolle: das Auge. Der Professor für Ophthalmologie, Spezialist für Netzhauterkrankungen, ist ein Hoffnungsträger für blinde Menschen. Seine Forschungsaktivitäten konzentrieren sich darauf, ihnen ihr Augenlicht zurückzugeben.
Es wiegt knapp 7,5 Gramm, ist hohl sowie kugelförmig und hat ein Volumen von rund sechs Kubikzentimetern. So lauten die Eckmasse für das menschliche Auge. Es ist auch in einem übergeordneten Sinn ein faszinierendes Organ für Prof. Scholl. «Ich wollte schon immer wissen, wie Sehen funktioniert, und zwar auf eine ganz fundamentale Art und Weise», erzählt der Mediziner. Deshalb hat er – als erster Student im deutschen Tübingen – neben Medizin von Beginn an auch noch gleich Philosophie studiert.
Mit keinem anderen Sinnesorgan können wir auch nur annähernd so viele Informationen in so kurzer Zeit aufnehmen. «Die Hälfte der rund 100 Milliarden Zellen in unserem Grosshirn hat irgendwie mit Sehen zu tun», umschreibt der Ophthalmologe die Bedeutung der Augen mit einem zahlenmässigen Vergleich.
Menschliche Netzhaut im Grossformat
Im Basler Augenspital sticht einem im Büro von Prof. Scholl als erstes ein farbiges Bild ins Auge, eine menschliche Netzhaut im Grossformat. Bei der Retina handelt es sich um eine lichtempfindliche Schicht am Augenhintergrund. In ihrer Mitte liegt die Makula, die Stelle des schärfsten Sehens.
«Die Netzhaut verfügt über rund 150 Millionen Sehzellen, aber über keine Schmerzrezeptoren», so Prof. Scholl. Das ist ein Vorteil und ein Nachteil zugleich. Das Positive: Die Netzhaut schmerzt nicht. Dieser fehlende Schmerz hat aber den Nachteil, dass eben auch ein Signal fehlt, das rechtzeitig auf ein mögliches medizinisches Problem hinweisen könnte. Umso wichtiger sind regelmässige Vorsorgeuntersuchen wie etwa die Messung des Augeninnendrucks zur Früherkennung eines Glaukoms. Denn therapeutisch gesehen kann die Medizin nur etwas gegen eine weitere Verschlechterung ab dem Zeitpunkt der Entdeckung dieser Krankheit ausrichten.
Prof. Scholl weiss, wovon er spricht. Der heutige Leiter der Basler Augenklinik hat eine Dissertation über das Glaukom geschrieben. In der Habilitation setzte er sich dann später mit dem Thema Farbenblindheit auseinander und brachte eine neue Methode aus der Grundlagenforschung in die Klinik ein. Dank verschiedenen Arten von Sinneszellen kann bei gesunden Menschen Licht, das auf die Netzhaut trifft, in elektrische Impulse umgewandelt werden, sodass sie die Umwelt optisch wahrnehmen können. Bei der Umwandlung spielen Fotorezeptoren, Stäbchen und Zapfen, eine entscheidende Rolle. Prof. Scholl hat sich speziell mit den Zapfen auseinandergesetzt und mithilfe eines sogenannten Elektroretinogramms (ERG) neue Erkenntnisse gewonnen. «In Tübingen habe ich in einem eigenen Labor klinische Forschungen durchgeführt. Die Zusammenarbeit mit der Grundlagenforschung ist bis heute ein Steckenpferd von mir geblieben.»
Wo die Augenheilkunde an Grenzen stösst
Dass er vom renommierten Johns Hopkins Hospital in Baltimore schliesslich nach Basel wechselte und andere Angebote ablehnte, hat seines Erachtens viel mit den am Rheinknie herrschenden attraktiven Bedingungen für die Forschung zu tun. «Wir werden Basel als eines der bedeutendsten Life-Sciences-Cluster der Welt nutzen, um die Erforschung von Makuladegenerationen, Netzhautdystrophien und des Glaukoms weiter voranzubringen», versprach Prof. Scholl bereits bei seinem Amtsantritt 2016.
Trotz aller Forschungsbemühungen: Auch die Augenheilkunde stösst (noch) an Grenzen – vor allem bei weitverbreiteten Krankheiten wie der trockenen Makuladegeneration im Alter. Und beim Glaukom beschränkt sich die Therapie auf die Behandlung des Augeninnendrucks, bilanziert Prof. Scholl den Stand der Dinge. Hier liegt noch ein grosses Potenzial brach.
Die Augenheilkunde sieht Hendrik Scholl aber in einem sehr positiven Licht. Die Fortschritte bezüglich Behandlungsmöglichkeiten sind seit einiger Zeit enorm. Vor allem bei Netzhauterkrankungen wird heute eine Vielzahl neuer Therapieformen entwickelt. Ein grosser Vorteil ist beispielsweise, dass Gentherapeutika unter der Netzhaut typischerweise nicht durch das Immunsystem abgestossen werden. Und: «Die Mikrochirurgie erlaubt unglaublich effiziente Eingriffe», schwärmt der Ophthalmologe. Operiert wird mit Fäden, die man nicht einmal mehr mit blossem Auge erkennt.
Hoffnung bei erblich bedingtem Sehverlust
Hoffnungen auf Fortschritte in der Augenmedizin dürfen sich teilweise Menschen machen, die ihr Augenlicht durch erbliche Erkrankungen verloren haben. Genetisch bedingter Sehverlust gilt weltweit als ein Hauptgrund für Blindheit. Die Zusammenhänge sind der Wissenschaft bekannt. Die Zapfen verlieren bei vielen Netzhauterkrankungen ihre Fähigkeit, Licht zu absorbieren und in ein Signal umzuwandeln. Das Positive ist aus der Sicht von Prof. Scholl: «Die Zapfen sterben nicht ab. Die Verbindung zur Datenleitung von der Netzhaut zum Gehirn bleibt erhalten.»
Hier setzen seine Forschungsbemühungen an: Die Lichtrezeptoren sollen reaktiviert und die Erblindung von Betroffenen wieder rückgängig gemacht werden. Grundlagenforscher und Ärzteschaft arbeiten Hand in Hand an neuen gentherapeutischen Möglichkeiten.
Das Interesse einer breiten Öffentlichkeit ist Prof. Scholl sicher: Einen Tag vor den US-Wahlen im November 2020 hat er zusammen mit Kollege Professor Dr. Botond Roska – beide arbeiten am Institut für molekulare und klinische Ophthalmologie Basel (IOB) – sogar den wieder kandidierenden US-Präsidenten Donald Trump aus den vordersten Schlagzeilen verdrängt. «Basler Forscher wollen Blinde wieder sehen lassen – die Chancen stehen gut» – stand ganz oben auf der Frontseite der Basler Zeitung.
Studie zur Gentherapie voraussichtlich ab 2025
Einen Schub für die Forschung hat ihm ein unlängst verliehener Preis der Foundation Fighting Blindness gegeben. Das Preisgeld von 600.000 Dollar soll dazu beitragen, Blinden eine optogenetische Gentherapie möglichst schnell zukommen zu lassen. Mittels für den Menschen ungefährlichen Viren werden Gene, die Lichtempfindlichkeit codieren, in die Zellen geschleust.
Noch ist aber Geduld angesagt: Prof. Scholl rechnet damit, dass eine klinische Studie mit Patienten am Basler Augenspital erst im Jahr 2025 begonnen werden kann. Er ist zuversichtlich. In Paris sei der Forschung mit einer ähnlichen Methode bereits ein Durchbruch gelungen. «Eine Person, die seit 15 Jahren nichts mehr gesehen hat, konnte mit ihren Fingern nun auf ein Objekt zeigen.»
Eine Erblindung rückgängig zu machen, bedeutet nicht, dass Blinde plötzlich wieder gleich gut sehen können wie früher oder wie augengesunde Menschen. «Aber unser Ziel ist es schon, dass sie wieder grössere Buchstaben lesen können», äussert sich Prof. Scholl zu den Ambitionen.
Auch in einem weiteren Forschungsbereich zeichnen sich Fortschritte ab. Langsam in den Bereich des Möglichen rückt eine gentherapeutische Behandlung der kompletten Farbenblindheit, die bislang nicht behandelbar ist. Die Behebung dieses Mankos wäre für diejenigen Menschen, welche gar keine Farben sehen, ein Befreiungsschlag, ist der Ophthalmologe überzeugt. Das Grundproblem von Betroffenen ist aber letztlich ein anderes: «Sie werden extrem vom Licht geblendet und haben eine sehr reduzierte Sehschärfe.»
Die Augen – der Spiegel der Seele?
Letzte (philosophische) Frage an den Mediziner und Philosophen Prof. Scholl: Was hält er eigentlich vom Satz «die Augen sind der Spiegel der Seele»? Lässt sich zum Beispiel aus den Augen eines Menschen auf eine Depression schliessen? Man sollte die Bedeutung der Augen allein für eine Interpretation nicht überbewerten, lautet sein Fazit.
«Um einen Menschen gut lesen zu können, müssen Sie sein ganzes Gesicht mit Mimik und auch dem Augenumfeld sehen», gibt er sich überzeugt. Gerade Corona habe gezeigt, dass Gefühlszustände bei Menschen mit einer Maske manchmal schwer einzuschätzen seien.
In Kürze
Prof. Hendrik Scholl leitet seit dem 1. August 2016 die Augenklinik des Universitätsspitals Basel. Gleichzeitig wurde er auch zum neuen Klinischen Professor für Ophthalmologie an der Universität Basel ernannt. Zusammen mit Prof. Botond Roska ist er Gründungsdirektor des Institut für molekulare und klinische Ophthalmologie Basel (IOB). Prof. Scholl (Jahrgang 1969) stammt aus Mainz und wuchs in Heilbronn auf. Er ist verheiratet, Vater zweier Kinder und wohnt in Bottmingen (BL).