Verpflichtung von ukrainischen Flüchtlingen in Spitälern lässt noch auf sich warten
Rein theoretisch ist alles vorbereitet für eine Beschäftigung von ukrainischen Flüchtlingen in Schweizer Spitälern. Doch der Andrang von Arbeitskräften aus dem kriegsgebeutelten Land lässt in der Praxis noch auf sich warten, wie eine kleine Umfrage bei einigen Institutionen zeigt. Dieser Zustand dürfte sich erst in den kommenden Monaten ändern, wenn sich die Flüchtlinge die erforderlichen Sprachkenntnisse angeeignet haben und sie mehr Gewissheit haben, wie es überhaupt mit ihnen weitergeht.
Eine grosse Schweizer Boulevardzeitung verbreitete kürzlich diese Zahl in grossen Lettern: 85.000. Rund so viele Fachkräfte würden der Schweiz aktuell fehlen. Eine beträchtliche Nachfrage besteht nicht zuletzt im Gesundheitswesen. Viele offene Stellen können in diesem Bereich schon seit längerer Zeit nicht mehr besetzt werden.
Dank dem Schutzstatus S dürfen Flüchtlinge aus der Ukraine direkt nach ihrer Ankunft in der Schweiz arbeiten. Erste mediale Geschichten aus dem Medizinalbereich machen bereits die Runde, etwa von einer portraitierten Ärztin und Assistenzprofessorin der medizinischen Fakultät der Universität Kiew, die sich möglichst schnell um eine Arbeitsstelle in einem Spital hierzulande bewerben will.
Oft fehlen die Deutschkenntnisse
Von einem Grossandrang von Flüchtlingen bei Institutionen aus dem Gesundheitsbereich kann allerdings noch keine Rede sein. Auch die Spitäler warten einmal ab, was auf sie zukommt. Einzig die Spital Thurgau AG ist bislang in die Offensive gegangen und hat öffentlich angekündigt, dass sie ukrainische Flüchtlinge anstellen möchte. Fachpersonen mit der notwendigen Qualifikation würden bevorzugt. Voraussetzung sind einerseits eine abgeschlossene Ausbildung mit Schweizer Anerkennung und andererseits gute Deutschkenntnisse. Ukrainerinnen und Ukrainer weisen zwar zu einem grossen Teil einen hohen Bildungsgrad auf und beherrschen in vielen Fällen die russische und teilweise noch die englische Sprache. Deutschkenntnisse sind aber oft (noch) Mangelware.
Die Spital Thurgau AG erklärt sich zudem bereit, fünf neue Arbeitsstellen für Flüchtlinge zu schaffen, die über keine berufliche Anerkennung für die Schweiz verfügen. Primär geht es um Stellen in der Pflege und in der Betreuung. Ein Einsatz sei auch im Labor, in der Hotellerie oder im technischen Bereich möglich. «Wir sind da offen», lässt sich CEO Marc Kohler zitieren. Dem Vernehmen nach haben sich bereits interessierte Personen gemeldet. «Wir evaluieren aktuell die konkreten Einsatzmöglichkeiten und versuchen, unser Hilfsangebot möglichst rasch auch in die Praxis umzusetzen», fasst Martina Gschwend, Assistentin der Geschäftsleitung bei der Thurgau Spital AG, den Stand der Dinge zusammen.
Interesse auch in anderen Institutionen vorhanden
Das grundsätzliche Interesse, leidgeprüfte Flüchtlinge zu unterstützen und so gleichzeitig Personalengpässe abzufedern, ist auch bei anderen Spitälern da, wie eine kleine Umfrage der Medical Tribune bei zufällig ausgewählten Institutionen zeigt.
- Universitätsspital Basel: «Wir haben immer wieder Anfragen von Interessierten», sagt Mediensprecher Nicolas Drechsler. «Wir haben alle notwendigen Informationen zusammengestellt, die es braucht, um Personen anstellen zu können.» Selber werde man nicht aktiv, wohl aber befinde sich das Spital in engem Kontakt mit den Behörden.
- Luzerner Kantonsspital: «Wir sind grundsätzlich offen für solche Anstellungen. Bedingung ist aber, dass entsprechende Stellen verfügbar sind, die notwendige Qualifikation vorhanden ist und die sprachlichen Barrieren nicht zu hoch sind», sagt der Medien- und Kommunikationsbeauftragte Markus von Rotz zu den Voraussetzungen im Luzerner Kantonsspital. Vereinzelte Kontakte habe es schon gegeben. «Aber spruchreif ist noch nichts.» Situationsbezogen arbeite man mit den kantonalen Behörden zusammen. Neben einer fachlichen Qualifikation seien gute Sprachkenntnisse insbesondere von Ärztinnen und Ärzten für einen guten Austausch mit den Patienten sehr wichtig. «Für spezifische Sprechstunden können aber Sprachkenntnisse wie Ukrainisch oder Russisch sogar von Vorteil sein», fügt von Rotz an.
- Stadtspital Triemli, Zürich: «Das Stadtspital Zürich wurde bisher nur sehr vereinzelt von Bewerbenden aus der Ukraine kontaktiert. Wir gehen davon aus, dass die Stellensuche bei den Flüchtenden erst in einigen Monaten zum Thema wird, wenn diese Personen ihren Alltag organisiert haben und klar ist, dass sie länger in der Schweiz bleiben», ist von Marketingleiter Tobias Faes zu erfahren. Aktuell befinde sich erst ein Unterassistent aus der Ukraine in einem dreiwöchigen Praktikum im Einsatz. Das Stadtspital Zürich sei offen für Bewerbungen in allen Berufen und werde ukrainische Bewerberinnen und Bewerber für alle regulären vakanten Positionen berücksichtigen. Wie bei allen anderen Spitälern wird auch vom Stadtspital Triemli Wert darauf gelegt, dass die Bewerberinnen und Bewerber die geforderten Qualifikationen, Diplome und Sprachkenntnisse für die entsprechenden Stellen mitbringen.
- Spitex Schweiz: «Deutschkenntnisse (B1) sind wichtig, ebenso eine pflegerische Ausbildung. Im Weiteren müssen die Diplome in der Schweiz anerkannt werden», macht auch Lisa Pesenti, stellvertretende Leiterin Marketing/Kommunikation bei der Spitex Schweiz, klar. Aktuell prüft der Dachverband, was beachtet werden muss, wenn Spitex-Organisationen ukrainische Flüchtlinge anstellen möchten. Die Informationen sollen dann an die Mitglieder weitergegeben werden. Verschiedene Projekte für die Arbeitsintegration von Flüchtlingen sind bereits lanciert, zum Beispiel zu «Flüchtlinge in der Spitex im Haushalt». Und mit SESAM habe das Schweizerische Rote Kreuz (SRK) im Kanton Aargau ein Pilotprojekt initiiert, das sich an anerkannte oder vorläufig aufgenommene Flüchtlinge richtet, die den Lehrgang zum Pflegehelfer/in SRK absolvieren und eine Anstellung im Pflegebereich suchen. Ergänzend macht Pesenti noch darauf aufmerksam, dass die Fachpersonen bei der Spitex selbstständig arbeiten und alleine unterwegs sind. Dies könne herausfordernd sein für Menschen, die neu in der Schweiz eintreffen. «Für solche Personen ist es einfacher, in einem Team – Spital oder Heim – zu arbeiten, da sie hier unmittelbar Unterstützung finden», sagt sie.
Die Arbeitsämter vermitteln
«Das Interesse seitens der Unternehmen, den Geflüchteten aus der Ukraine Chancen zu bieten, ist gross», teilt stellvertretend für andere das Amt für Wirtschaft und Arbeit im Kanton Zürich mit. Unter den zahlreichen Anfragen, die das Amt erreichen, befinden sich auch Institutionen des Gesundheitswesens. Im Rahmen der gesetzlichen Vorgaben versucht man so unbürokratisch wie möglich zu helfen.
Die regionalen Arbeitsvermittlungszentren (RAV) stehen allen Arbeitgebern und Branchenverbänden für Auskünfte und Informationen jederzeit zur Verfügung. Experten der Abteilung Arbeitsbewilligungen beantworteten ausserdem in Webinaren Fragen seitens der Arbeitgeber. Der Kanton Zürich hat wegen der Ukraine-Flüchtlinge zudem eine separate Webseite eingerichtet, die fortlaufend aktualisiert wird.
Mangel an Kinderbetreuungsplätzen
Dass es bei der Stellenvermittlung manchmal harzt, könnte mit einem besonderen Umstand zusammen hängen. «Die geflüchteten Frauen mit kleinen Kindern suchen meistens verzweifelt nach Kinderbetreuungsoptionen», macht der Ukrainische Verein in der Schweiz aufmerksam. Das Problem ist umso dringender zu lösen, weil rund 70 Prozent der Geflüchteten weiblich sind. Vier von zehn Erwachsenen reisten mit ihren Kindern alleine an. «So modern die Schweiz in vielen Dingen ist – in Sachen Kinderbetreuungsmöglichkeiten ist es hier in der Schweiz wie im letzten Jahrhundert», monierte eine Frau aus Kiew kürzlich in einem Zeitungsbeitrag. In der Ukraine könnten Eltern ihre Kinder bereits ab sechs Monaten in der Krippe abgeben, wobei der Staat sämtliche Betreuungskosten übernehme.
Das hie und da zu hörende Argument, Flüchtlinge nähmen hierzulande anderen die Stelle weg, wird von den angefragten Spitälern übrigens vehement gekontert. Das deutlichste Votum stammt von Nicolas Drechsler vom Universitätsspital Basel: «Wir halten von solchen Vorwürfen gar nichts. Das Problem im Gesundheitswesen ist nach wie vor ein völlig ausgetrockneter Arbeitsmarkt, nicht ein Überangebot.»